Milliardengrab Arzneimittel

BERLIN. Die Zahlen sind ernüchternd: Trotz vieler gesetzlicher Eingriffe waren die Mehraufwendungen der Krankenkassen für Arzneimittel im Vorjahr mit knapp 17 Prozent doppelt so hoch wie von Ärzten und Kassen in ihrer Zielvereinbarung festgelegt. Rund 25 Milliarden Euro gaben die Kassen 2005 für Pillen und Salben aus, 3,6 Milliarden mehr als im Jahr zuvor.

Nach dem gestern veröffentlichten Arzneimittel-Verordnungsreport hätten ohne Abstriche an der Versorgungsqualität insgesamt 3,5 Milliarden Euro eingespart werden können, wenn die Mediziner konsequent preiswertere Nachahmer-Produkte (Genrika) statt teure Original- oder Analogpräparate, also patentgeschützte Mittel mit nahezu gleicher Wirkung, verschrieben hätten. Die Hauptursache für den Kostenschub sieht der Report im Einfluss der Pharmaindustrie auf das Verschreibungsverhalten der Ärzteschaft. Nach Überzeugung seines Mitherausgebers Ulrich Schwabe vom Pharmakologischen Institut der Universität Heidelberg helfen dagegen "unabhängige Information" über neue Medikamente. Bisher werde diese Arbeit überwiegend durch etwa 16 000 Referenten der Medikamenten-Industrie besorgt. Doch nur 16 Prozent ihrer Informationen seien durch Studien belegt. Zugleich forderte Schwabe ein Verbot von Umsatzbeteiligungen an den verordneten Arzneien, die Pharmafirmen an Ärzte gezahlt hätten. Außerdem müsse die Vergütung von Anwendungs-Beobachtungen unterbunden werden, für die Pharmabetriebe angeblich eine Milliarde Euro ausgeben.In Deutschland neunmal teurer

Ein weiteres Problem ist laut Schwabe der mangelnde Wettbewerb auf dem deutschen Arzneimittelmarkt. So kostet zum Beispiel eine kleine Standardpackung des Cholesterinsenkers Simvastatin als Generikum in Großbritannien umgerechnet 2,13 Euro. In Deutschland sind dafür satte 20,95 Euro fällig. Ähnlich fällt der Preisvergleich mit Schweden aus. Dabei resultierten die Preisunterschiede keineswegs daraus, dass Generika in Schweden oder Großbritannien billiger hergestellt würden. Auch deutsche Generika-Produzenten böten ihre Simvastatin-Präparate in Schweden deutlich billiger an als hier zu Lande, sagte Schwabe. Offenbar herrschten in Deutschland schlechtere Bedingungen für den Preiswettbewerb, resümierte Schwabe. Die Schuld daran gab er der Bundesregierung. Ihr fehle es nicht nur am Mut für soziale Reformen. Die große Koalition sei auch "beratungsresistent", weil sie bei der anstehenden Gesundheitsreform nur "bürokratische Mini-Korrekturen" plane. Gesundheitsstaatssekretärin Marion Caspers-Merk (SPD) wies den Vorwurf kategorisch zurück: "Die Zahlen sind bedrohlich, aber sie sind alt." Tatsächlich hat sich die Kostenexplosion im Arzneimittelsektor seit Inkrafttreten eines Spargesetzes Anfang Mai leicht abgeschwächt. So lagen die Ausgaben im Juni um fast zwei Prozent niedriger als im Vorjahresmonat. Im Juli waren es 3,5 Prozent weniger. Die neuen Bestimmungen haben auch zu einer wachsenden Zahl zuzahlungsfreier Medikamente geführt. Nach Angaben des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen (BKK) profitieren davon inzwischen 900 000 Patienten. Damit hätten die Versicherten 8,5 Millionen Euro gespart. Die gesetzlichen Krankenkassen verbuchten durch die entsprechende Verschreibung besonders preiswerter Präparate eine Entlastung von neun Millionen Euro. Caspers-Merk verwies zudem auf geplante Reform-Teile wie die Kosten-Nutzen-Bewertung von Medikamenten und Neuerungen bei der Arzneimittelpreisverordnung, die ebenfalls zu Einsparungen führen sollen. Der Mitverfasser des jährlich erscheinenden Arznei-Verordnungsreports, Dieter Paffrath, blieb indes skeptisch: Auch wenn das geltende Spargesetz die Ausgabenentwicklung bremsen könne, "ist nicht mit entscheiden Wirkungen auf die Struktur der Arzneimittel-Verordnungen zu rechnen".

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