Carmen neu entdeckt: Von Folklore keine Spur

Viele szenische Ideen, ein durchdachtes Konzept und hervorragende musikalische Leistungen bietet die diesjährige Produktion der Merziger Zeltoper. Wer noch eine Restkarte für Carmen erwischen will, wird sich allerdings beeilen müssen.

Merzig. (DiL) Ach ja, Carmen, dieses abgerittene alte Opern-Schlachtross. Die Geschichte von der Femme fatale, ihrem tragischen Liebhaber Don José, dem Auf-in-den-Kampf-Torrero Escamillo: Kritikers Pflichtaufgabe, hundert Mal gesehen, in jeder Interpretation. Was soll da noch Neues kommen? Zum Beispiel das: Ein Opern-Abend, so spannend und erkenntnisreich, als sehe man das Stück zum ersten Mal. Neue Töne, neue Bilder, neue Ideen, und das alles aus einem Guss. Plausible, detailgenau gezeichnete Personen. Akteure, die sich nicht aufplustern, sondern in den Dienst der Rolle stellen. Modernes Ambiente, aber eine gut verständliche Geschichte, die die Ambitionen des Komponisten punktgenau trifft. Musikalische Charakterisierung statt dahingeschmetterter, auf schnellen Beifall getrimmter Opern-Hitparaden-Evergreens. Mit einem Wort: ein Glücksfall.

Tolles Bühnenbild, prächtige Kostüme



Regisseurin Aurelia Eggers lässt ihre Carmen in einem Armuts-Vorort von Sevilla spielen. Wellblech-Wände, Graffiti, rostiger Stahlboden, Obdachlose. Mittendrin eine heruntergekommene Station der Policia. Kids spielen Basketball, Polizisten jagen Junkies, halbstarke Kampfsportler prügeln sich. Die Taverne des Lillas Pastia ist eine Trinkhalle, das Schmugglernest ein Schrottplatz.

Ein toll bespielbares Bühnenbild hat Azizah Hocke da entwickelt, und Ulli Kremers prächtige Kostüme nehmen das fantasievolle Wechselspiel zwischen klassischen spanischen Anklängen und zeitgenössischen Elementen kongenial auf. Das ist alles weit weg von handelsüblicher Carmen-Folklore, aber nah dran an der Musik.

Dirigent Alexander Mayer gibt mit dem kompakt agierenden "Minsk Orchestra" schon bei der Ouvertüre die Linie vor: Tempogeladen, aufgerauht, kontrastreich, bewusst unromantisch geht es zu, mit viel Situationsdramatik, aber ohne Schwulst. Einen Moment lang ahnt man, warum diese Musik mit ihrer trockenen Hitze bei der Premiere 1875 einen Skandal hervorrufen konnte. Auf der Bühne wird sehr aufmerksam und konzentriert agiert. Jede Bewegung, jede Geste hat Sinn, auch das "Spiel ohne Ball" stimmt, vor allem beim Chor. Selten hat man die Bedeutung kleinerer Rollen wie des Offiziers Zuniga (Aldo Tiziani), der Zigeunerinnen Frasquita (Vanessa Calzagno) und Mercedes (Eva Eiter), der Schmuggler Dancairo (Nathan Myers) und Remendado (Eberhard Lorenz) so plastisch und verständlich vor Augen geführt bekommen.

Ann Kathrin Naidu zeigt - musikalisch hoch souverän - eine vom Leben tief enttäuschte Carmen, die ahnt, dass auch dieser Liebes - Versuch wieder scheitern wird.

Grandiose Schlussszene



Ihre berühmte Habanera singt sie anfangs wie ein resignatives Selbstgespräch, bis sie dann, beinahe unwillig, die ihr zugedachte Rolle der Femme fatale übernimmt. Timothy Richards zeichnet den Don José höhensicher und mit schönem Timbre als unsicheres, verklemmtes Muttersöhnchen, das aus seiner bürgerlichen Existenz geschleudert wird. Da ist seine Jugendfreundin Micaela (anrührend und keineswegs nur eine Landpomeranze: Silja Schindler) ohne Chance. Renatus Meszars Escamillo ist gelungen-ironisch gezeichnet, ein "local hero", der - grandiose Schlussszenen-Idee - die Höhepunkte seines eigenen Stierkampfs beim Public Viewing mit seinen Fans feiert, während José Carmen tötet. Man könnte noch lange das Rezensenten-Notizbuch plündern mit den - fast immer - gelungenen Ideen dieser Produktion. Am Ende überschüttet das Publikum im Merziger Opernzelt die Akteure mit minutenlangen Ovationen.

Vorstellungen vom 25. bis 29. August, Karten in den TV-Service-Centern Trier, Bitburg, Wittlich. Info: www.musik-theater.de

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