Der Heimat-Macher aus dem Hunsrück - Regisseur Edgar Reitz feiert seinen 80. Geburtstag

Morbach/München · Edgar Reitz hat mit seinem Monumentalwerk Heimat Filmgeschichte geschrieben. Derzeit entsteht der Kinofilm Die andere Heimat, keine Fortsetzung seiner weit über Deutschland hinaus bekannten Spielfilm-Trilogie, aber doch untrennbar mit ihr verbunden. Der Regisseur wird am Donnerstag, 1. November, 80 Jahre alt.

Morbach/München. Cineasten mögen sich kaum vorstellen, was passiert wäre, hätte Edgar Reitz nicht Ende 1978 mit seinem aufwendig produzierten Projekt "Der Schneider von Ulm" über den erfolglosen Flugpionier Albrecht Ludwig Berblinger einen Flop erlebt.
Der 3,4 Millionen-Mark teure Film fiel bei der Kritik total durch. Demoralisiert zog sich der Regisseur nach Sylt zurück. An der Nordsee besann sich der gebürtige Morbacher (Kreis Bernkastel-Wittlich) auf seine Wurzeln im Hunsrück. In der Lebenskrise des Regisseurs, der am Donnerstag seinen 80. Geburtstag feiert, entstand die Grundidee für einen dreiteiligen, mehr als 50 Stunden langen Zyklus über 100 Jahre deutsche Geschichte am Beispiel der Familie Simon in Schabbach im Hunsrück. Der Sohn eines Uhrmachers schrieb damit Filmgeschichte. "Man kennt Reitz in New York und in Shanghai", sagt Filmemacher Alexander Kluge, ein Weggefährte von Reitz, dem TV.
Dessen Filme seien nicht einfach realistisch, sie würden eine spirituelle Kraft wiedergeben. Kluge: "Sie berühren die Menschen. Das ist Magie." Nach Ansicht von Kluge liegt das Erfolgsgeheimnis von Reitz unter anderem in dessen "außergewöhnlichen Begabung" begründet. Der Wahl-Münchener mache "Filme aus einem Guss". Er könne Drehbücher schreiben, sei Kameramann und Produzent und führe Regie. Wichtig sei allerdings auch das Thema. Kluge: "Ein Filmemacher ist dann besonders gut, wenn er von dem erzählt, was er kennt und liebt".
Das sei bei Reitz der Fall. Er arbeitet mit vielen Laienschauspielern. Die Werke erhalten dadurch eine ganz eigene Art der Authentizität. Profi-Darsteller lässt er Wochen vor den Dreharbeiten im Hunsrück leben, damit sie den Dialekt lernen. Ob Profi oder Komparse, jeder sei für Reitz gleich wichtig, erinnert sich die 72-jährige Eva-Maria Schneider, die in Heimat die Marie-Goot spielt, an die Arbeitsweise des Regisseurs. Insbesondere mit den Laien habe er am Set viel Geduld bewiesen.
Mancher Part stand so gar nicht im Drehbuch. "Stickelcher" (Geschichten), die ihm während der Aufnahmen erzählt wurden, finden sich im fertigen Film wieder. Kein Wunder, dass das Epos in keine filmische Konfektionsgröße passt.
Für die Kirchbergerin ist ein weiterer Aspekt wichtig: Durch ihn sei man stolz auf den Hunsrück. Denn die Region habe vorher "nicht viel gegolten". Selbstbewusstsein sei nicht gerade eine Stärke der Menschen in der Mittelgebirgslandschaft.
Nach der Ausstrahlung von "Heimat - eine deutsche Chronik" 1984 kannten plötzlich Menschen aus aller Welt den Hunsrück. Nach Ansicht von Ministerpräsident Kurt Beck hat Reitz einer der "schönsten rheinland-pfälzischen Landschaften ein Denkmal gesetzt". Dessen Name und der Begriff Heimat gehören laut Beck zusammen. Das Thema lässt Reitz auch heute nicht los. Im August wurden die Dreharbeiten für sein jüngstes Werk "Die andere Heimat" abgeschlossen (der TV berichtete). Die deutsch-französische Koproduktion, die im Oktober 2013 in die Kinos kommen soll, ist keine Fortsetzung des Dreiteilers. Sie spielt im 19. Jahrhundert, also zeitlich vor der Trilogie, ebenfalls in Schabbach.
Das Interesse am neuen Film ist immens. Bis zu 2000 Besucher kamen an einzelnen Wochenenden, sagt Kurt Aßmann, Bürgermeister von Gehlweiler im Rhein-Hunsrück-Kreis, um inmitten der Kulissen Heimat-Luft zu schnuppern.
Auf zahlreiche Besucher hofft man übrigens auch in Morbach. Im Elternhaus des Regisseurs entsteht das Café Heimat. Dort sollen Gäste inmitten von Filmrequisiten Kuchen essen können. Auch Kulturveranstaltungen sind geplant. In Kürze wird mit den Sanierungsarbeiten begonnen.Extra

Edgar Reitz ist wie Alexander Kluge einer der Mitunterzeichner des Oberhausener Manifests. 1962 hatten zahlreiche Jungfilmer darin ein neues deutsches Kino abseits des "Konfektionsfilms" gefordert. Das war die Geburtsstunde des deutschen Autorenfilms, den Reitz entscheidend mitprägte. Eine der ersten Auszeichnungen gab es 1967 für den Film "Mahlzeiten" über die Geschichte einer Ehe und ihres Scheiterns auf dem Festival in Venedig. Er bekommt einen Preis für das beste Erstlingswerk. Inspiriert von einer tatsächlichen Reise seiner Mutter dreht Reitz mit Hannelore Elsner, Elke Sommer und Mario Adorf Anfang der 1970er Jahr die Sittenkomödie "Die Reise nach Wien". Darin amüsieren sich zwei Hunsrücker Ehefrauen mitten im Krieg in Österreich, während ihre Männer an der Front sind. 2008 gab Reitz eine restaurierte Fassung heraus. Den Adolf-Grimme-Preis erhielt Reitz 1978 für "Die Stunde Null", eine Geschichte über den Abzug der Amerikaner und die Ankunft der Russen auf einer einsamen Bahnstation. 1980 wird der Dokumentarfilm "Geschichten aus den Hunsrückdörfern" als Prolog zur Heimat-Trilogie gezeigt. iro

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