Kein "Echtleben" im falschen

Trier · In den 80ern gab es die Lehrerschwemme, in den 90ern die Ärzteschwemme, jetzt die Kreativenschwemme. Welche Folgen dies hat, beschreibt Katja Kullmann in ihrem Sachbuch "Echtleben".

Trier. In den 70er Jahren gab es keine Kreativen. Zumindest verstand man etwas anderes darunter. Kreativ, das war eine überschaubare Minderheit von Künstlern, die zwischen Genie und Wahnsinn taumelten. Den Begriff umgab, je nachdem in welcher Runde er benutzt wurde, ein Hauch des Zweifelhaften, Anrüchigen.
Dies änderte sich in den 80ern. Mit der Einführung des Privatfernsehens, dem Aufkommen des subjektiven "New Journalism" und dem Boom der Werbeagenturen durchlief das Wort eine Metamorphose. Der Kreative war nicht länger ein entschwebter Einzelgänger, sondern Teil einer aufregenden, großstädtischen Szene. Er oder sie gehörte zu jenen Privilegierten, die nicht dem Takt der Stechuhr gehorchten, sondern nur ihrer Inspiration. Ihre Berufung war ihr Beruf. Und das Beste daran: Der Spaß wurde auch noch prächtig bezahlt.
Jeder wollte kreativ sein


Kein Wunder, dass plötzlich jeder kreativ sein wollte. Zumal die Kreativen massiv Eigenwerbung betrieben und so ihre eigene Konkurrenz nährten. Indem sie sich in Vorabendserien, Zeitschriftenartikeln, auf Modeschauen und sogar im Kino ("Cannes-Rolle") selbst feierten, weckten sie unter jungen Menschen, die vor der Berufswahl standen, die Begehrlichkeit, es ihnen gleichzutun. Von Arbeit war seltsamerweise dabei nie die Rede. Von Talent auch nicht - wieso auch? Steckt nicht in jedem von uns ein Kreativbündel, das nur befreit werden muss?
So kam es, wie es kommen musste: Pünktlich zu den Wirtschaftskrisen der 00er Jahre wurde der Markt mit Kreativen überschwemmt. Und weil Angebot und Nachfrage noch immer den Preis regeln, purzelten die Honorare und Gehälter. Ganze Berufsgruppen - Kameraassistenten, Modedesigner, Werbegrafiker, freie Journalisten - machten die Erfahrung, dass das Nachtleben nur noch halb so gut schmeckt, wenn man die Cocktails nicht bezahlen kann.
Bestseller "Generation Ally"


Keine weiß dies besser als Katja Kullmann. 2002 hatte sie mit "Generation Ally" (eine feministische Erwiderung auf "Generation Golf") einen Bestseller gelandet, wenige Jahre später lebte sie von Hartz IV. In "Echtleben" beschreibt sie den Kater, den Kreative wie sie erlitten haben, nachdem die Party zu Ende war. Durch das Buch zieht sich ein Ton der Verbitterung, der Enttäuschung darüber, dass kreative Menschen - im wahrsten Sinn des Wortes - um ihren Lohn gebracht werden.
Selbstkritik sucht man vergebens, und wenn, dann offenbart sie sich unfreiwillig. Kullmann, die Ressortleiterin bei einer Frauenzeitschrift war, räumt ein, dass das Produkt ihrer Arbeit eher mittelmäßig war - interessante Redakteurinnen, uninteressante Zeitschrift. An dieser Stelle hätte das Buch spannend werden können. Doch auf die naheliegende Frage kommt Kullmann nicht: Wie viele Erzeugnisse, die Kreative herstellen, sind Ausdruck von Kreativität? Und wie viele einfach nur fad, uninspiriert, abgekupfert? Die Antwort darauf dürfte Kullmann nicht gefallen: Vielleicht ist die Gesellschaft am Ende ja doch nicht schuld. Vielleicht ist es einfach nur so, dass zu viele Menschen den falschen Beruf ergriffen haben.
Katja Kullmann: Echtleben - Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben, Eichborn, 255 Seiten, 17,95 Euro, ISBN 978-3821865355

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