Künstlerisch überformte Scham-Teile

Jetzt wissen wir es: Luxemburg ist entweder sittlich gefestigter, humorvoller oder abgebrühter als Venedig. Jedenfalls gibt derzeit die Stadt einer Ausstellung Asyl, die bei der Biennale herausgeflogen ist.

 Jacques Charlier. TV-Foto: Eva-Maria Reuther

Jacques Charlier. TV-Foto: Eva-Maria Reuther

Luxemburg. (er) Den Fall hatten wir schon mal. Als 1504 Michelangelos David in Florenz aufgestellt wurde, musste wegen des allgemeinen Schamgefühls (besonders der Damen) das Genital des nackten Königs mit einem goldenen Feigenblatt bedeckt werden. 500 Jahre später ist das italienische Schamgefühl offensichtlich wieder - und zwar gleich durch 100 - solcher zur Schau gestellter nackter Tatsachen bedroht. Dabei wurde diesmal das Feigenblatt mittels künstlerischer Überformung sozusagen gleich bauseitig mitgeliefert. Doch der Reihe nach: Als Beitrag der französischsprachigen Gemeinschaft Belgiens Wallonie- Bruxelles bei der Biennale Venedig 2009 sollte der belgische Maler und Bildhauer Jacques Charlier 100 Zeichnungen seiner 1973 begonnen Serie "Sexes d'artistes" als Straßengalerie in der Lagunenstadt präsentieren. Kurator des Projekts ist Enrico Lunghi, der Direktor des Luxemburger Museums für moderne Kunst Mudam.

Die Bilder der Werkgruppe, bei der sich Charlier auf die "Künstlerleben" des Michelangelo-Zeitgenossen Vasari beruft, sind Porträts der anderen Art. Der Belgier, dem bekanntlich nicht allzu viel heilig ist, hat sich dafür "die besten Künstler" des 20. und 21. Jahrhunderts - von Marcel Duchamp bis heute - ausgewählt. Nach dem Motto "Pars pro toto" (ein Teil für den ganzen Mann) hat er seine Helden auf jenes Organ reduziert und das künstlerisch überformt, das gleichermaßen der biologischen Lust am Neuschaffen wie der Lust an sich dient. Wozu - wie wir von Psycho-Urahn Freud wissen, auch die künstlerische gehört. Das ist, echt belgisch, mal mehr oder weniger deftig, aber immer witzig und vergnüglich anzusehen.

Den Tugendwächtern der Biennale gefiel solche Kleinteiligkeit gar nicht. Passt nicht ins Programm, beschied Biennale-Direktor Daniel Birnbaum. Lunghi und Charlier mochten's nicht glauben und klopften erneut ans Himmelstor, diesmal unterstützt von der wallonischen Kulturministerin Fadila Laanan. Er fürchte Ärger mit den betroffenen lebenden Künstlern, ließ Biennale-Präsident Paolo Baratta darauf wissen. Die Stadt selbst sah plötzlich das "allgemeine Schamgefühl" bedroht und zog ihre Zusage zurück, die Zeichnungen anzubringen. "Zensur, Gefährdung der Kunstfreiheit", wetterte Laanan in Brüssel. Lunghi und Charlier hingegen versuchten es zur See und kreuzten mit dem Ziel "Venedig zu befreien" vier Tage mit einem Boot und dem Projekt vor der Serenissima. Auch zu Land geht der Kampf weiter. Zahlreiche weniger schamhafte Städte, darunter Luxemburg, zeigen jetzt mittels Guckkasten, was den Italienern entgangen ist. Ein Schelm, wer Schlechtes dabei denkt.

Bis 30. Juni, Place d`armes, Luxemburg, öffentlich und ganztägig

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