AUFGESCHLAGEN – NEUE BÜCHER Niedertracht und Gottesfurcht

Leser aus dem Norden nennen alles, was aus dem Süden kommt, grotesk, außer es ist wirklich grotesk – dann heißt es, es sei realistisch.“ So mokierte sich Flannery O’Connor einmal über Kritiken, die sich mit ihren Werken beschäftigten. Eine Meinung, die gewiss nicht von ungefähr kommt, legt man ihre Kurzgeschichten zugrunde, die in einer Neuauflage erschienen sind und den programmatischen Titel tragen „Keiner Menschenseele kann man noch trauen“. Jedenfalls nicht jenen, denen man in ihren Erzählungen begegnet. „Ein guter Mensch ist schwer zu finden“ heißt denn auch die erste in diesem Band, die auf einer geradezu heiter-beschwingten Note beginnt – wenn das Unheil sich auch bereits im ersten Absatz andeutet – und in einer Katastrophe endet. Von den fünf Personen, die sich zu einem Ausflug in einen anderen US-Bundesstaat aufmachen, erreicht jedenfalls keine ihr Ziel.

Flannery O’Connors Kurzgeschichten, in denen Menschen einander unglaubliche Sachen antun, sprühen vor lakonischem Witz, der mit blutigem Entsetzen daherkommt. Raffiniert wird das alles so erzählt, als sei es die normalste Sache der Welt. Wenn ein 104-jähriger General, der in seinen Erinnerungen an den großen Süden und die fantastischen Schlachten schwelgt, die er gegen den Norden gefochten haben will, einfach nicht sterben will, heißt das bei O’Connor: „Zu leben war für ihn so zur Gewohnheit geworden, dass er sich einen anderen Zustand nicht vorstellen konnte“ („Eine späte Feindbegegnung“).

Entstanden sind die Erzählungen in den 1950er Jahren, doch sie haben, gemessen an den derzeitigen (Horror-)Nachrichten aus Amerika, nichts von ihrer Aktualität verloren: Da geht es um Selbstgerechtigkeit, Niedertracht und unverhohlenen Rassismus gegen alles Unamerikanische: „Das ist unser Fehler. Wir lassen zu, dass alle die Leute Englisch lernen. Es gäbe viel weniger Ärger, wenn jeder bloß seine eigene Sprache könnt“, heißt es in „Der Flüchtling“, in dem ein polnischer Überlebender eines KZ sich durch sein Können und seine Effizienz den Zorn der anderen Farmarbeiter zuzieht. Die sind schwarz und – natürlich – arbeitsscheu, es sei denn, nicht ganz richtig im Kopf: „Stell  einen Nigger mit Dachschaden ein, denn die haben nicht genug Verstand, um mit der Arbeit aufzuhören“, wird der Besitzerin der Farm geraten.

Die katholische Schriftstellerin beschreibt die Menschen ihrer Umgebung mit erbarmungsloser Ironie und ätzendem Sarkasmus. Sie sind gottesgläubig bis zur Selbstaufgabe, aber sie werden trotzdem betrogen und hintergangen; die Niedertracht kennt keine Grenzen. Glücklicherweise haben sich die Übersetzer nicht von der „political correctness“ verführen lassen und den Text der Vorlage entschärft: „Wir haben beschlossen, dass N-Wort in seiner ganzen Anstößigkeit im Text zu belassen, und zwar weil der Abscheu des Lesers vor diesem Wort ein wesentlicher Grund ist, warum O’Connor es überhaupt verwendet hat“, schreiben sie. Ein kluge Entscheidung: So atmet auch die Neuübersetzung den Geist, den Flannery O’Connor in ihren Erzählungen beschworen hat. Rainer Nolden

Flannery O’Connor, Keiner Menschenseele kann man noch trauen. Storys, aus dem amerikanischen Englisch von Anna Leube und Dietrich Leube, mit einem Nachwort von Willi Winkler, Arche, 344 Seiten, 22 Euro.

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