Wenn der DJ zum Rockstar wird

Neuhausen · Techno und Rock - das sind zwei Lager, zwei Welten, das passt nicht zusammen? Dieses alte Klischee ist längst Vergangenheit. Die großen Rockfestivals wie Rock am Ring, das Southside Festival und das Rock-a-Field (29./30. Juni in Roeser/Luxemburg) setzen in diesem Jahr wie nie auf Elektro.

Neuhausen. Achje, Techno: Die Pillenvernichter, die zuckenden Selbstdarsteller auf der Tanzfläche, dieses stumpfe Bum-Bum-Bum-Volk, das vor dem Knöpfchendreher fast auf die Knie fällt. Achje, Rocker und Metaller. Die Kuttenträger und Deo-Allergiker, die ihre Dosenbierwampe wie eine Trophäe vor sich herschaukeln und die sich die letzten acht Zellen aus dem Schädel bangen. Achje, Klischee! Wenn Sie beim Lesen gerade irgendwo insgeheim genickt haben, haben Sie Ihre musikalische Sozialisation vermutlich in den 80ern oder 90ern abgeschlossen. Damals waren die musikalischen Stacheldrähte hoch, der Kalte Krieg zwischen vielen Subkulturen Alltag. "Ehrliche und handgemachte Rockmusik" war entweder das höchste aller Gefühle. Oder eben der ideenfernste Konservatismus aus der müffelnden Lederjacke.
Das hat sich zwar schon vor Jahren geändert. Mit der leichteren Verfügbarkeit von Musik im Internet hat sich die Aufmerksamkeitsspanne sicher nicht vergrößert, die musikalische Bandbreite bei vielen aber schon. Sonst würden nicht derbe Metalcore-Bands und zarte Songwriter inzwischen auf den gleichen Open Airs spielen.
Bei den großen (Rock-)Festivals fällt in diesem Jahr besonders auf, wie sehr Elektronik an Bedeutung gewonnen hat. Nur als Beispiel: DJ Fritz Kalkbrenner tritt am Ring auf. Sein Bruder Paul schließt auf dem Southside-Festival den Abend ab. Vom harten Rock von Queens of the Stone Age direkt zu Paul Kalkbrenner? Klar! Gitarren-Breitseite oder dicke Beats? Die Frage stellt sich nicht. Warum einschränken, wenn man alles haben kann?
Vergangenen Samstag beim Southside-Festival, eine halbe Stunde vom Bodensee entfernt: Da spielt der belgische Drum&Bass-DJ Netsky sein erstes großes Festival in Deutschland, mit Liveband - und sorgt für einen Höhepunkt. Tanzbar und spannend sein, das schaffen nur wenige. Trotz der Überschneidung mit dem Rammstein-Auftritt ist das Zelt gut gefüllt. Auch Left Boy war beim Southside eine der großen Live-Überraschungen. Beide treten auch beim Rock-a-Field-Festival am 29./30. Juni auf. Die Luxemburger haben mit Volbeat und Queens of the Stone Age weiterhin Rock auf der Liste. Aber auch dort gibt\'s auf den neuerdings drei Bühnen zunehmend Elektronisches zu hören - etwa C2C, Animal, Netsky.
Beim "Techno" ist nur der Name eher auf dem Rückzug. Die Vielzahl an elektronischen Genres wird eher unter "Elektro" abgelegt als unter "Techno". Das hatte ohnehin nie recht als Oberbegriff getaugt und klingt für manchen Altrocker mit neuem DJ-Verständnis immer noch nach Scooter. Das ist manchem dann doch zu viel Kirmes.
Rock-a-Field: Samstag, 29. Juni: u.a. Phoenix, Seeed, Kraftklub, Netsky, Leftboy, Of Monsters and Men. Sonntag: Queens of the Stone Age, Volbeat, Bloc Party, C2C, Example, Jake Bugg, Macklemore & Ryan Lewis, Tame Impala. www.rockafield.luExtra

Sado-Maso oder Sphärenklang: Wenn die Fans der deutschen Festivals den Preis für den krassesten Stilwechsel vergeben würden, hätte ihn das Southside im baden-württembergischen Neuhausen ob Eck sicher. Denn kaum waren Rammstein - wie immer mit Donner, Feuer und rollendem Teutonen-R - am Samstagabend mit ihrem Brutalo-Theater fertig, ertönten auf Bühne zwei die sanften Sphärenklänge der isländischen Kombo Sigur Rós. Das Southside hatte noch mehr zu bieten: Billy Talent in starker Form und großartiger Spiellaune, Exoten und Gute-Laune-Bands wie Gogol Bordello, Rowdys wie NOFX und Boysetsfire, Größen wie Queens of the Stone Age und Indie-Stars wie die Arctic Monkeys. Das Publikum ist jünger, die Fläche kleiner als bei Rock am Ring, doch das sich auf Alternative, Independent und auch Electro konzentrierende Festival punktet mit guter Atmos phäre und einer generellen Lässigkeit. So kann man jederzeit auf der Wiese einschlafen und ohne Fußspuren im Gesicht wieder aufwachen. 60 000 Fans feierten bei zum großen Teil herrlichem Festivalwetter. jp

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