Glaube im Alltag: Vernunftehe

Es waren nicht die schlechtesten Ehen, an deren Anfang nicht der Rausch eines großen Verliebtseins stand, sondern ein kritisches Nachdenken. Gefühle und Wunschvorstellungen sind notwendig und sollten nicht unterdrückt werden, sie können aber leicht ins Wanken geraten. Bei Vernunftentscheidungen geht es um das Abwägen von Vor- und Nachteilen, die Wirklichkeit nicht zu verklären, aber auch nicht zu verdammen, und um die Bereitschaft, mit eigenen und fremden Mängeln zu leben. Der Mensch ist mit Vernunft begabt. Er sollte sie auch anwenden, nicht nur in der ehelichen Gemeinschaft. In der Politik scheint unter dem Druck der Verhältnisse ein Nachdenken einzusetzen, wie die Zukunft vernünftig gestaltet werden kann. Dabei muss manche Parteiideologie aufgegeben und um des Großen und Ganzen willen einzelne Wunschziele zurückgestellt werden. Vernunft setzt die Bereitschaft zum Verzicht voraus. Was die Politiker beginnen zu lernen, das ist eine Lektion, an die sich die Kirchen oft noch nicht heranwagen. Kirchliche Urteile und Entscheidungen müssen für den Verstand nachvollziehbar sein, wenn sie nicht an Überzeugung und Glaubwürdigkeit verlieren wollen. Mir scheint, die Kirchen haben Angst, ihr System von der menschlichen Vernunft in Frage stellen zu lassen. Deshalb beschwören sie vehement ewige und himmlische Wahrheiten. Das gilt so für den interkonfessionellen Dialog, aber auch für die Auseinandersetzungen mit anderen Religionen. Unser Verstand ist nur Stückwerk. Es könnte ja alles ganz anders sein, als wir es meinen und behaupten. Es wäre ja auf jeden Fall unverantwortlich, diese Möglichkeit von vorne herein auszuschließen. Für Lebensgemeinschaften, für die Politik und auch für die Kirchen wäre es gut, das Für und Wider einer Position auf ihre Logik und Umsetzbarkeit kritisch zu überprüfen. Sonst überholt uns die Wirklichkeit, und wir merken es gar nicht, weil wir an alten Klischeevorstellungen festhalten. Kritisches Nachdenken bewahrt uns vor dem Zusammenbruch von alten und neuen Wunschvorstellungen. Der Mensch ist mit Vernunft begabt, wir sollten sie auch anwenden. Heinz Schröter, Pfarrer

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema