Wohlfeiler Protest

Geht es nicht auch ein bisschen weniger hysterisch? Die Diskussion über den Umgang mit der Ukraine im Zusammenhang mit der anstehenden Fußball-Europameisterschaft erreicht im deutschen Musterknaben-Land absurde Drehzahlen. Kein Hinterbänkler, der nicht noch eine Schippe drauflegt: Politiker-Boykott, Spieler-Protest, Komplett-Absage.

Darf\'s noch ein bisschen mehr Empörung sein? Ja gern, es kostet ja nichts. Da holzen selbst seriöse Politiker gegen den "Unrechtsstaat Ukraine", diese "Diktatur", die "Menschenrechte mit Füßen tritt". Nun ist die Ukraine ganz gewiss kein demokratischer Rechtsstaat nach westlichem Muster, und der Umgang mit der ehemaligen Regierungschefin Timoschenko ist ziemlich schäbig. Aber diktatorischer als etwa Russland ist die Ukraine mitnichten, im Gegenteil: Gegen das perfekt-manipulative Medien-Imperium eines Wladimir Putin ist Viktor Janukowitsch eine arme Wurst, die jederzeit mit ihrer Abwahl rechnen muss. Und gegen die Partei-Potentaten in China sind die Regierenden der Ukraine geradezu ein Hort an rechtsstaatlicher Zivilisation. Aber Putin wird von einem deutschen Kanzler zu einem "lupenreinen Demokraten" geadelt, und China-Premier Wen Jiabao darf sich als Messebesucher der ganzen Aufmerksamkeit und Sympathie der aktuellen Amtsinhaberin sicher sein. Den Russen kaufen wir gegen gutes Geld Erdgas ab, den Chinesen verkaufen wir gegen gutes Geld sogar Waffen. Wo es um Geschäfte geht, stehen Menschenrechte allemal nur unter "Verschiedenes" auf der Tagesordnung. Aber hier geht es ja nur um Sport, und die Ukraine ist kein sonderlich solventer Geschäftspartner. Da kann man ja schön sein Mütchen kühlen und den Freiheitskämpfer heraushängen lassen. Fakten interessieren da weniger. Zum Beispiel, dass noch vor zwei Jahren gerade in der deutschen Presse ausführlich über massive Korruptions- und Bereicherungsvorwürfe gegen Timoschenko und ihre Familie berichtet wurde. Das heißt keineswegs, dass sie zu Recht verurteilt worden ist. Aber die Freisprüche per Ferndiagnose aus Deutschland und die Stilisierung zur Freiheitsheldin entbehren jeder rationalen Grundlage. Für die meisten Opfer von Staatswillkür, sei es in der Ukraine, Russland oder China, interessiert sich kein Mensch. Keine Kamera zeigt ihre Verletzungen, kein Journalist lauscht den Presseerklärungen ihrer Kinder. Ihnen würde übrigens auch eine mit viel Tam-Tam gefeierte Ausreise Timoschenkos zur Behandlung nach Deutschland nichts nützen. Und wäre die Ukraine dann weniger Diktatur? Das müsste man alle diejenigen Politiker fragen, die in diesem Fall vergnügt auf der Tribüne sitzen würden. d.lintz@volksfreund.de

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort