Überraschung für Außerirdische

Mehrere Leser regen an, die Berichterstattung über alternative Energie zu erweitern und Fragen der Verbraucher zu beantworten. Etwa die: Wie viel kostet der Atom ausstieg, und wer bezahlt das? Woher soll der Strom kommen, wenn die Sonne nicht scheint oder der Wind nicht weht? In Deutschland wird mehr Energie erzeugt als verbraucht - wo geht der überflüssige Saft hin? Liebe Leser, vielen Dank für Ihre Zuschriften.

Fragen über Fragen, die nach der Atomkatastrophe in Japan (wieder) aufkommen und hochemotional diskutiert werden. Wir versuchen, die Antworten zu geben, Hintergründe aufzudröseln, zu erklären - und herauszufinden, was das alles für die Region Trier-Eifel-Mosel-Hunsrück bedeutet. Ohne Hysterie, ganz sachlich.

Einige Beispiele für Schwerpunkte der vergangenen Tage: Unsere Reporter berichten über den französischen Pannenreaktor Cattenom. Experten der Verbraucherzentrale und der Fachhochschule Trier liefern Tipps zur Auswahl von Stromanbietern, erläutern Öko-Siegel und Verträge. Wir stellen ein Projekt des Unternehmens Juwi vor, das derzeit in Morbach erprobt, wie die Kraft von Sonne und Wind in Erdgas umgewandelt und gespeichert werden kann.

Neben derlei regionalen Aspekten bilden wir die politische Debatte in Deutschland ab, beleuchten die hurtige Atomwende der schwarz-gelben Bundesregierung und recherchieren, ob der Ausstieg aus der Risiko-Technologie realisierbar ist. Und selbstverständlich halten wir Sie über das Geschehen in Japan auf dem Laufenden.

Jenseits des tagesaktuellen Gezänks, Gezerres und Gezickes um das Für und Wider von Atomkraft lohnt es, sich mit einigen grundsätzlichen Dingen zu beschäftigen. Stehen wir an einer Zeitenwende, wie manche raunen? Fliegt uns die Erde demnächst um die Ohren, wie Endzeit-Propheten munkeln?

Wir erleben eine Kettenreaktion, wie sie sich schon unzählige Male zugetragen hat: Wann immer gewaltige Natur ereignisse, unvorstellbare Kriege, fürchterliche Seuchen die Menschheit durchrütteln und in existenzielle Krisen stürzen, rappelt sich die bedrohte Spezies auf und reagiert: mit wissenschaftlichem Fortschritt, mit frischem Denken, bisweilen mit religiös-weltanschaulichen Revolutionen.

Freilich nicht, indem irgendwer einen Schalter umlegt und damit die Geschicke des Planeten korrigiert, und ganz bestimmt nicht ohne langwierige Auseinandersetzungen.

"Sooft eine neue überraschende Erkenntnis durch die Wissenschaft gewonnen wird, ist das erste Wort der Philister: es sei nicht wahr, das zweite: es sei gegen die Religion, und das dritte: so etwas habe jedermann schon lange vorher gewusst." So hat der Schriftsteller Wilhelm Raabe (1831-1910) das klassische Verhaltensmuster beschrieben.

Übertragen auf die Atomdebatte: Zuerst verhallen die Warnungen und Mahnungen der Kritiker - weil nicht wahr ist, was nicht wahr sein kann: Die Atomkraft ist sicher, mindestens für hunderttausend Jahre (haben uns die Politiker und die Lobbyisten weisgemacht, na ja, von einigen Quertreibern abgesehen, die sowieso immer gegen alles protestieren). Zweite Phase: Bedauerlicherweise läuft etwas schief, bevor hunderttausend Jahre vergangen sind (menschliches Versagen, Schlamperei), aber das ändert, ungeachtet gruseliger Menetekel wie Tschernobyl, zunächst nichts an der Einstellung der meisten Bürger. Bis es sich nicht länger leugnen lässt: Die Kernspaltung ist Teufelszeug, zerstörerisch, nicht beherrschbar - und plötzlich haben das alle seit jeher gesagt.

Die Atom-Euphorie, die in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts ausbrach (alle Energieprobleme gelöst, hach!), ist längst abgeklungen und gründlicher Skepsis gewichen. Genau umgekehrt verhält es sich mit der Idee, aus Sonne, Wind oder Biomasse Strom zu erzeugen. Der erste, typische Reflex: geht nicht, gibt's nicht. Nach zarten Anfängen: wollen wir nicht, entspricht nicht unserer Überzeugung (zudem vermutlich horrend teuer). Und nun: so schnell wie möglich, bitte schön, haben wir doch immer schon gefordert.

Wir lernen: nicht (nur) im Hier und Jetzt denken und handeln, sondern in größeren Zeiträumen!

Wie soll regenerative Energie für sechs oder acht oder zehn Milliarden Erdlinge dereinst erzeugt werden? Eine Ahnung davon hat die "Expo 2010" in Shanghai vermittelt: Auf früheren Weltausstellungen - seit 1851 - sind grandiose Neuheiten wie der Lippenstift oder die Nähmaschine präsentiert worden. In der chinesischen Metropole drehte sich alles um den Menschen und seine Umwelt: ein Labor der Zukunft, das erkundete, wie wir leben wollen - und zeigte, wie vehement die Forschung an "sanften", ressourcenschonenden Materialien und Technologien tüftelt: solarthermische Parabolrillenkraftwerke, hauchdünne Photovoltaikmodule, Solarfassaden ...

Der Schriftsteller Ian McEwan entwirft in seinem Roman "Solar" eine spannende Vision: "Wir stehen vor einem Ozean der Träume, realistischer Träume, Wasserstoff aus Algen zu gewinnen, Flugzeugtreibstoff aus genetisch veränderten Mikroben, Strom aus Sonnenlicht, Wind, Gezeiten, Wellen, Zellulose, Hausmüll; wir werden Kohlendioxid aus der Luft filtern und zu Treibstoff machen, wir werden die Geheimnisse der Pflanzen aufdecken und nachahmen. Ein Außerirdischer, der auf unserem Planeten landet und sieht, welche Unmenge an Sonnenenergie auf ihn einwirkt, wäre überrascht zu erfahren, dass wir ein Energieproblem zu haben glauben, dass wir jemals auf die Idee kommen konnten, uns selbst zu vergiften, indem wir fossile Brennstoffe verbrauchen und Plutonium herstellen." Das Szenario eines fantasievollen Schreiberlings? Mag sein. Aber wir sollten darüber nachdenken.

Herzliche Grüße!

Peter Reinhart, stellvertretender Chefredakteur

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