Echte Wahrheiten und falsche Streicheleinheiten

TRIER. Rückendeckung für SPD-Chef Franz Müntefering: Der regionale DGB-Vorsitzende Karl Heinz Päulgen hat die Politik aufgefordert, ihren Vorrang vor Wirtschaftsinteressen geltend zu machen. Die zentrale Mai-Kundgebung in Trier stieß indes auf wenig Interesse.

Um kurz vor 11 Uhr ist der Platz vor der Porta Nigra nicht wesentlich voller als an einem anderen Frühlingssonntag. Nur die kleine Bühne, dutzende Biertischgarnituren und eine Handvoll Stände lassen erahnen, dass an diesem Morgen hier etwas Besonderes stattfindet - die zentrale 1. Mai-Kundgebung der Region. Ein paar Fahnenträger schlendern durch die Reihen, als DGB-Chef Päulgen eine Viertelstunde später die "lieben Kolleginnen und Kollegen" begrüßt, von denen es an diesem Morgen die meisten vorgezogen haben, einen Ausflug zu machen oder auf der heimischen Veranda zu sitzen. "Das ist doch enttäuschend", sagt ein Gewerkschafter, der nach eigenen Angaben jedes Jahr dabei ist - am Hauptfeiertag aller Arbeitnehmer. 28 000 Gewerkschaftsmitlieder gibt es im ehemaligen Regierungsbezirk, nur knapp 100 mögen nach Trier gekommen sein. Auch eine Handvoll Partei-Prominenz scharrt sich um den SPD-Stand der Trier-Saarburger Landratskandidatin Katarina Barley: Finanzstaatssekretär Karl Diller ist da, ADD-Präsident Josef-Peter Mertes, ein wenig später kommen Sozialministerin Malu Dreyer und ihr Ehemann Klaus Jensen. Fast schon symbolisch hat die neue Linkspartei Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) neben den Genossen ihren Klapptisch aufgebaut und sammelt eifrig Unterschriften gegen das rot-grüne Reformprojekt Hartz IV. "Ich bin gerade aus der SPD ausgetreten", sagt einer, während er unterschreibt. "Das ist gut so", antwortet der Mann hinter dem Tisch. Nebenan sind sich Karl Diller und Josef-Peter Mertes einig: "Die WASG wird sich schnell wieder überlebt haben", sagen die beiden SPD-Funktionäre, und es klingt ein wenig mehr nach Hoffnung denn nach Überzeugung. DGB-Vorsitzender Päulgen lässt jedenfalls schon mal erkennen, dass in Zeiten globaler Veränderung auch das traditionell enge Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie kein Bündnis mehr ist für die Ewigkeit. "Wir sind nicht Wasserträger der SPD", sagt Päulgen, wenngleich er seine Sympathie für die Kapitalismus-Kritik von SPD-Chef Müntefering nicht verhehlen mag. Nur: "Es ist schlimm, dass der Parteivorsitzende die Wahrheit sagt und sein Vorgänger Gerhard Schröder gleichzeitig Streicheleinheiten an die Unternehmen verteilt." Eine klarere Linie erkennt der DGB-Chef da schon bei den Vertretern der katholischen Soziallehre, etwa dem Trierer Bischof Reinhard Marx. Der predigt zur selben Zeit nur ein paar hundert Meter entfernt im Dom. Die Botschaft des Bischofs zum ersten Mai "könnte von mir stammen", sagt Päulgen, nachdem er die Erklärung gelesen hat. Da ist von einem "primitiven Kapitalismus" die Rede und von Kräften, "die eine immer höhere Kapitalrendite für das einzige Ziel des wirtschaftlichen Handelns ansehen", statt den Menschen zu ermöglichen, "durch ihre eigene Arbeit ihr Leben in Freiheit und Würde zu gestalten". "Du hast Würde, zeig' sie" ist auch das Motto der DGB-Kundgebung vor der Porta. Nur hören hier an diesem Morgen deutlich weniger Leute zu als zur selben Zeit im Dom.

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