Historische Reform im Parlamentskindergarten

BERLIN. Regierung und Opposition verabschieden das große Reformpaket - aber hatte der Kanzler auch seine eigene Mehrheit?

Es ist der Tag der Rechthaber, der in der Lobby des Bundestages in fast tumultartigen Szenen und lautstarken Wortgefechten gipfelt. Da steht der parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Wilhelm Schmidt, mit hochrotem Kopf vor den Mikrofonen und erklärt selbstsicher: "Wir haben eine saubere, eigene Mehrheit", als sich plötzlich wie ein schnaufender D-Zug von hinten das Pendant der Union, Volker Kauder, durch das Gedränge heran kämpft. Kauder keift: "Sie haben die Mehrheit um sieben Stimmen verfehlt!" Schmidt blafft zurück: "Lächerlich!" Kauder brüllt zu den Journalisten: "Glauben sie der SPD nix bei Zahlen, die verrechnen sich immer!" Schmidt barsch: "Reden sie doch nicht dazwischen. Das besprechen wir jetzt nicht vor den Kameras!" Ein fast schon absurdes Schauspiel aus dem Parlaments-Kindergarten. Der Tag, an dem wohl das größte Reformpaket in der Geschichte der Bundesrepublik von Regierung und Opposition gemeinsam verabschiedet worden ist, versinkt in Rechthaberei auf niedrigem Niveau, in Zahlenspielchen und im Interpretationschaos. Der Kanzler wollte seine "eigene Mehrheit", wen interessiert da noch, dass der Weg frei gemacht wurde für das Vorziehen der Steuerreform, dass die Tabaksteuer erhöht oder der Kündigungsschutz gelockert wird und, und, und. Rot-grüner Sündenfall beim Arbeitsmarkt

Das Augenmerk richtet sich nur noch auf das Ergebnis der sechsten namentlichen Abstimmung an diesem Freitag: "4. Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" steht auf der Tagesordnung. Und in diesem Paket steckt für einige Abgeordnete aus dem Koalitionslager der rot-grüne Sündenfall: die Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln für Langzeitarbeitslose ab 2005. Hart ist zuvor noch einmal mit den Kritikern wie Ottmar Schreiner oder Sigrid Skarpelis-Sperk gerungen worden. Die Probeabstimmung bei der morgendlichen SPD-Fraktionssitzung weist sechs Gegenstimmen und eine Enthaltung auf. SPD-Fraktions-Chef Franz Müntefering redet auf die "Abweichler" nach der Sitzung erneut ein, vergeblich. Zerknirscht wirkt der Zuchtmeister, als er später vor die Journalisten tritt. Er weiß einfach nicht genau, wie viele Stimmen am Ende aus den eigenen Reihen fehlen werden - alles ist möglich, und das ist Münteferings Schlappe. Bei den Grünen ein ähnliches Bild: Sechs Parlamentarier wollen ablehnen, allen voran der Alt-Linke Christian Ströbele, der sein Votum nicht als eines gegen den Kanzler, sondern gegen die Union verstehen will. Beim kleinen Koalitionspartner, heißt es, habe es tags zuvor zahlreiche Abgeordnete gegeben, die noch mit sich gerungen hätten. Kein gutes Omen. Einige beschweren sich sogar darüber, dass "immer dieselben mit Nein stimmen dürfen", verrät ein Alternativer. Kurios und aberwitzig. Gerechnet wie in der Sauerlandschule

Um 11.11 Uhr, nach einer Debatte der gegenseitigen Aufrechnung darüber, wer was im Vermittlungsausschuss erfolgreich durchgesetzt oder verhindert hat, trägt SPD-Fraktions-Chef Müntefering einen Zettel zum Kanzler und seinem Vize Joschka Fischer (Grüne). Erleichterung macht sich auf der Regierungsbank breit. Müntefering hat bereits das Ergebnis: Nach Koalitionslesart erzielt Rot-Grün mit 294 Ja-Stimmen eine eigene Mehrheit, da die Opposition nur 287 Ja-Stimmen beisteuert. So habe er das auf der "Sauerlandschule" gelernt, erklärt Müntefering seine Deutung. "Mehrheit", verkündet auch Joschka Fischer grinsend, kein anderes Wort fällt nach Bekanntwerden des Ergebnisses öfter. Laurenz Meyer, CDU-Generalsekretär, fragt jedoch: "Was wäre passiert, wenn wir mit Nein gestimmt hätten?" Zwölf Parlamentarier von SPD und Grüne lehnen nämlich das als Hartz IV bekannte Gesetzespaket ab. Und 299 Stimmen hätte das Regierungslager gebraucht, wenn sich die Opposition verweigert hätte. "Verfehlt", sagt Meyer. Dem Kanzler fehle die Unterstützung der eigenen Reihen. "Die Bundesregierung ist nicht handlungsfähig", urteilt CDU-Chefin Angela Merkel. Guido Westerwelle fordert Neuwahlen. Von Reformen redet kaum noch jemand. Was wäre wohl passiert, wenn es eindeutig für Gerhard Schröder schief gegangen wäre? Wohl nichts. Anders als sonst, wenn der Kanzler sein politisches Schicksal mit einer Abstimmung verbindet, sitzt nämlich Gattin Doris Schröder-Köpf nicht auf der Tribüne und drückt die Daumen. Soll heißen, Trost hat der Niedersachse diesmal nicht einkalkuliert. Die Reform: Was sicht ändert: GELD UND MARKT SEITE 7

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort