Sozialer Sprengstoff

TRIER. Straßenjungs in Südamerika oder Aidswaisen in Afrika: Das sind die Bilder, die die meisten Deutschen im Kopf haben, wenn von armen Kindern die Rede ist. Dabei gibt es ihn auch vor der Haustür, den Nachwuchs, der kaum eine Chance hat.

Nein, hungern muss in Deutschland kaum jemand. Fast alle haben ein Dach über dem Kopf, und nackt läuft auch niemand herum. Doch Armut hat viele Gesichter. Das des Kindes zum Beispiel, das in einer auf Statussymbole bedachten Leistungsgesellschaft Schuhe aus dem Discounter statt der angesagten Basketball-Stiefel trägt, das nicht mit ins Kino gehen kann und auch bei der Klassenfahrt zu Hause bleibt. Das keinen Computer hat und folglich bei den Schularbeiten nicht mal eben im Internet nachgucken kann, das die Fünf in Mathe nicht dank Nachhilfestunden doch noch verhindern kann. Das ist eine Situation, in der laut Kinderschutzbund derzeit 2,5 Millionen der insgesamt 15 Millionen Minderjährigen in Deutschland leben, also jeder sechste: Sie werden in Familien groß, die mit dem Arbeitslosengeld II oder anderen staatlichen Hilfen auskommen müssen. "Insbesondere Kinder sind die Verlierer von Hartz IV, weil das Leistungsniveau nicht mehr dem Niveau der alten Sozialhilfe mit Regelsatz und zusätzlichen einmaligen Leistungen entspricht", heißt es beim Paritätischen Wohlfahrtsverband. Dort fordert man eine öffentliche Diskussion über den Mindestbedarf, dessen Anhebung sowie die Wiedereinführung einmaliger Leistungen. Von 207 Euro im Monat solle der gesamte Bedarf eines Kindes bis 14 Jahre bestritten werden, kritisiert der "Paritätische" und rechnet am Beispiel Einschulung vor, was das bedeutet: "Allein Schulranzen, Schultüte, Turnbeutel, Turnkleidung, Federmappe und Schreibhefte addieren sich schnell zu 180 Euro." Kinder aus armen Familien kommen wegen der schlechteren Bildungschancen schwer aus dem Armutskreislauf heraus, hat auch eine Studie der Arbeiterwohlfahrt (Awo) ergeben. Sie haben demnach größere Schulprobleme und zeigen schon im Vorschulalter verstärkt Entwicklungsdefizite, die sich später noch verstärken. Doch nicht die Bildungschancen allein sind das Problem, wie ein aktueller Bericht der Düsseldorfer Landesregierung über die Lebenswirklichkeit von Familien in Nordrhein-Westfalen zeigt. Das Risiko eines Säuglings zu sterben ist dort in armen Familien 30 Prozent höher als bei einem Baby aus gutem Hause. In unteren sozialen Schichten treten häufiger Asthma, Fettsucht, Schlafstörungen, Kopf- und Magenschmerzen sowie psychomotorische und Sprach-Störungen auf. Zudem verunglücken Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus fast doppelt so häufig im Straßenverkehr. Kein Musikunterricht, keine Nachhilfe

Die Wohlfahrtsverbände fordern massive Anstrengungen, um die Chancen von Kindern aus armen Familien zu verbessern. Aus ethischen Gründen, aber auch, weil es sich keine Gesellschaft erlauben könne, so viel Potenzial ungenutzt zu lassen. Dies gelte umso mehr vor dem Hintergrund, dass es hierzulande ohnehin zu wenig Kinder gebe. Zudem birgt die Situation sozialen Sprengstoff. "Es ist überhaupt nicht abzusehen, was es für ein Gemeinwesen bedeutet, wenn ein Drittel seiner Kinder auf einem Einkommensniveau leben muss, das es faktisch von ganz alltäglichen, normalen gesellschaftlichen Vollzügen ausschließt", heißt es beim "Paritätischen". Und weiter: "Auf einem Einkommensniveau, das keinen Musikunterricht, keinen Sportverein, keinen Zoobesuch, keinen Computerkurs und nicht einmal Nachhilfeunterricht zulässt, wenn dieser nötig sein sollte." Gratis werde ein Kurswechsel nicht zu haben sein, räumen die Experten ein. Doch, so bringt es die Awo auf den Punkt: "Was heute Millionen kostet, spart morgen Milliarden."

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