Tanz auf dem Drahtseil

Reil · Hubertus Kluge ist auch Datajan. Der Kölner Künstler mit Wohnsitz in Reil arbeitet seit 40 Jahren als Maler und Bildhauer. Er hat erfahren, wie schwierig das Künstlerdasein ist, wenn sich das Glück, Berühmtheit zu erlangen, nicht einstellt. Für ihn ist seine frische und freche Kunst Gegenpol zur persönlichen Resignation.

Reil. Zwei Zimmer, Küche, Bad in Reil. Mit dem entscheidenden Extra: An den Wänden hängen Gemälde, ein Original neben dem anderen. 100 Bilder in leuchtenden Farben zieren Flur, Küche, Schlafzimmer und Wohnzimmer, im Atelier noch einmal so viele, die in Schutzhüllen aneinander gelehnt in einem Regal stehen. Hier wohnt und arbeitet Hubertus Kluge, Kunstmaler.Worte kleben im Kopf

Auf vielen Bildern tummeln sich zu Piktogrammen reduzierte Männchen und Tiere, bis zu 500 auf einem Bild, die mal an afrikanische Kunst, mal an moderne Comics erinnern. Die collagenartige Anordnung wirkt auf den ersten Blick chaotisch, dennoch sind die Motive klar strukturiert. Ebenso klar ist die Darstellung in exakten Umrissen und flächig aufgetragenen Primärfarben. "Vielleicht bin ich ein typisch deutscher Maler, wenn es so etwas gibt", sinniert er darüber, dass er Ordnung braucht. Wie viele Künstler, sagt Kluge, leide er an Depressionen. Um die Krankheit in Schach zu halten, setzt er einen Gegenpol durch die frohe Farbwahl.Die Konstruktion seiner Bildaufbauten und die Exaktheit seines Pinselstrichs sind wohl auch seinem erlernten Beruf als Fernmeldetechniker geschuldet, vermutet Kluge, der sich schwertut, seine Kunst in Worte zu kleiden. Vielleicht, weil ihm "die Worte im Kopf kleben", wie er sagt, vielleicht aber auch, weil er gar nicht möchte, dass seine Bilder und Skulpturen in ein Schema gepresst werden. Kunsthistoriker und Zeitungsredakteure haben dennoch Kategorien für seine unterschiedlichen Richtungen gefunden: Höhlenmalereien, Traumszenen, Beziehungsbilder und amouröse Malerei, die den Liebesakt unverschleiert pornografisch wiedergibt. Letztere wird Kluge vom 2. bis 4. September in einer Scheune in der Reiler Dorfstraße ausstellen. Kluge weiß, dass er damit für Aufregung sorgen wird.Am Ende findet der Maler doch eine Beschreibung für seine karikaturhaften, verrätselten Bilder. Sie seien "ein kunterbuntes Tohuwabohu", so wie sein Leben. In Görlitz geboren, wuchs er in Köln auf. 1992 zog er nach Berlin, vier Jahre später kehrte er ins Rheinland zurück. Seine Ehe scheiterte, er hatte die Stadt satt, also zog er 1999 nach Reil. Die Liebe zog ihn 2005 wieder fort, bis er im Dezember vergangenen Jahres doch in den Moselort zurückkehrte.Zur Kunst fand der gelernte Fernmeldetechniker als Autodidakt. Mit 21 Jahren hatte er erste Ausstellungen in Las Palmas, Köln, Aachen und Dormagen. Viele Ausstellungen folgten.Früher trug Kluges Kunst nicht selten politischen Inhalt. Botschaften zu verteilen ist heute nicht mehr sein Ansinnen. Es bringt nichts. "Man ist in der Welt von visuellen Analphabeten umgeben", lautet seine Begründung.Dem damals amtierenden Bundeskanzler Kohl schickte er eine Aktentasche mit Wahrheit, Weisheit, Mut und Bescheidenheit gefüllt und dem Hinweis, er solle sich reichlich bedienen. Für eine Ausstellung 1986 in Berlin mit dem Titel "Reflexion über Deutschland", malte er Bilder, in denen er die Einheit Deutschlands vorwegnahm. "Ich habe das gespürt", sagt er. Dazu passt seine Aussage, "die erste Wand, die mir antwortete, war Leinwand", so als flüstere sie ihm Eingebungen zu, die er mit Pinsel und Farbe sichtbar macht. Die Ausstellung stellte eine Weiche in seinem Leben: Kluge beschloss, fortan von der Kunst zu leben. Ein Entschluss, den er heute bereut. Das Leben als Künstler bezeichnet er als "Tanz auf dem Drahtseil". Denn die Lorbeeren, die er zu gewinnen träumte, sind es nicht geworden. Stattdessen viel Arbeit für wenig Lohn. Ein Auto ist da nicht denkbar. Auch auf den Fernseher verzichtet er, das allerdings aus Überzeugung. Hart wird es, wenn das Geld nicht mehr für die Leinwand reicht. Begeisterte Menschen, die seine Bilder gesehen haben, fragten ihn, warum er nicht berühmt sei. "Das weiß ich auch nicht", kommentiert er seine Antwort mit einem galgenhumorigen Lachen.Es gab gute Zeiten, beispielsweise, als ein renommiertes Kölner Möbelhaus seine Bilder in großem Stil verkaufte. Heute hat er ein Schaufenster in der Reiler Dorfstraße, eine Homepage, Stammkunden und zwei bis drei Ausstellungen im Jahr, um seine Bilder und Skulpturen zu verkaufen.Aktuell widmet sich Kluge Partiturmalereien. Mit Acrylfarben und mehrschichtiger Lasurtechnik trägt er Fragmente von "Love me tender" oder klassischen Händel- und Beethoven-Konzerten auf Leinwand auf, reichert sie mit assoziierten Bildelementen an und taucht sie in die Farben, die er mit den Klängen verbindet.Wenn sich sein Wunsch erfüllt, kann er seine Partiturbilder demnächst in Bonn ausstellen. Ein Traum ginge in Erfüllung, wenn er die Bilder mit klassischen Notenzitaten in Kirchen zeigen könnte.Kontakt: Datajan, Kirchplatz 14, 56861 Reil, Telefon 0178/1838541. datajan.de Seit 1996 nennt sich Hubertus Kluge Datajan, um nicht mit gleichnamigen Künstlern verwechselt zu werden. Kluge legt Wert darauf, dass sich die Wortschöpfung Datajan keinesfalls an den ähnlich ausgesprochenen Namen "d\\'Artagnan", bekannt aus der französischen Musketier-Literatur, anlehnt. Vielmehr setzt sich das Kunstwort aus seinem Spitznamen Jan und dem Wort Data als Anspielung auf die technisierte Welt zusammen. sys

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