Erschöpfte Sieger

Für die Grünen geht das erfolgreichste Jahr ihrer Parteigeschichte zu Ende. Erstmals sind sie in allen 16 Landtagen vertreten.

In fünf Bundesländern sitzen sie mit am Kabinettstisch, und in Baden-Württemberg stellen sie gar den Ministerpräsidenten. Zwischenzeitlich hatten die Grünen in Umfragen die SPD sogar eingeholt. Alles schien möglich. Selbst von einem grünen Kanzlerkandidaten war die Rede. Und wer die selbstbewussten Auftritte ihrer Führung auf dem Bundesparteitag in Kiel für bare Münze nahm, der konnte glatt den Eindruck gewinnen, dass es tatsächlich nur noch eine Frage der Zeit ist, bis die Grünen wieder in der Bundesregierung mitmischen. Immerhin war der Konvent als eine Art Zwischenetappe hin zu diesem Ziel angelegt. Hinter der Inszenierung steckte jedoch viel Pfeifen im Wald.
Einerseits galt es das Wahldesaster in Berlin zu übertönen, wo man sich ebenfalls schon in der Chef-Rolle sah, anstatt, wie am Ende geschehen, auf den harten Bänken der Opposition. Zum anderen lässt die politische Großwetterlage kaum noch grünen Rückenwind zu. Hat sich die Partei also im Sieg erschöpft? Fast scheint es so. Die Anti-Atomschlacht ist geschlagen, nachdem Schwarz-Gelb sogar einen ehrgeizigeren Ausstieg proklamierte als Rot-Grün. Darüber kann auch der längst schon ritualisierte Grünen-Protest gegen die Castor-Transporte nicht hinwegtäuschen. Im Gegenzug ist die Schuldenkrise in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Und nach Lage der Dinge könnte das noch eine Weile so bleiben. Wirtschafts- und Finanzpolitik sind nicht unbedingt Handlungsfelder, die der Wähler mit den Grünen verbindet. Für ihre Parteistrategen heißt das: Bricht die Konjunktur ein, geht die Konjunktur klassischer grüner Themen baden. So stehen die Ökos nun vor der Herausforderung, sich inhaltlich neu zu profilieren.
Auf dem Parteitag haben sie sich dafür viel Zeit genommen. Die zentralen Beschlüsse zur Euro-Rettung und zur Steuerpolitik sind allerdings nicht von jener Originalität geprägt, die die Grünen bei ihren ökologischen Urthemen unter Beweis gestellt haben. Euro-Bonds fordern inzwischen fast alle. Aber man wüsste schon gern, welche konkreten Bedingungen die Grünen mit den gemeinsamen Euro-Staatsanleihen verknüpfen. Die bloße Beschwörung der Einheitswährung und der europäischen Integration ist jedenfalls zu dürftig, um die Bürger nachhaltig davon zu überzeugen. Auch die Diskussion über die Belastung von Spitzenverdienern blieb merkwürdig uninspiriert. Früher wäre darüber noch heftig unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit gestritten worden. In Kiel dagegen zog es sich wie ein grüner Faden durch die Diskussion, dass man allzu heftige Steuererhöhungsbeschlüsse vermeiden müsse, um der FDP keine Steilvorlagen zu liefern. Zu einer "eigenständigen politischen Kraft", wie grüne Promis ihre Partei gern preisen, passt das wohl kaum.
nachrichten.red@volksfreund.de

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort