Schlechte Vorbilder

"Wenn der Deutsche hinfällt, dann steht er nicht auf, sondern er schaut, wer schadenersatzpflichtig ist." Noch immer ist viel Wahres dran an diesem Tucholsky-Zitat. Klagen wird zum Volkssport. Jeder will Recht bekommen, jeder Schaden wird bis auf den letzten Cent berechnet.

Nachbarschaftsstreitigkeiten werden nicht mehr direkt zwischen den Betroffenen ausgetragen, sondern gleich vor den Kadi gezerrt. Wochenlang wird der Gerichtsapparat mit Bagatellen beschäftigt, wo früher ein Schiedsmann die Streithähne hätte womöglich wieder versöhnen können. Es wird immer abstruser, mit was sich die Richter beschäftigen müssen: Eine Sozialhilfeempfängerin klagt auf einen Markenschulranzen für ihr Kind, ein Richter (!) fühlt sich durch die Außenlampe seines Nachbarn in seiner Nachtruhe gestört und klagt sich dafür durch zwei Instanzen. Der ganz normale Wahnsinn an deutschen Gerichten. Rechtschutzversicherungen lassen bei vielen offenbar die Angst vor unbezahlbaren Prozesskosten und die Hemmungen schwinden. Nicht ganz unbeteiligt an der Prozessflut sind auch die Anwälte. Statt zur außergerichtlichen Schlichtung zu raten, schleppen sie ihre Mandanten lieber vor Gericht, weil es mehr einbringt. Das versucht man mit der neuen Anwaltsgebühren-Ordnung zumindest etwas einzudämmen, für jede Einigung außerhalb des Gerichtssaals gibt es mehr Geld. Ein guter Ansatz, doch leider nur ein Anfang. Denn statt die Klagewut durch entsprechende Gesetze zu bekämpfen, legen die Politiker eine ähnliche Prozessfreude an den Tag: Der Kanzler klagt gegen Vorwurf, seine Haare seien gefärbt; die Opposition torpediert Regierungsbeschlüsse mit Klagen. Bei solchen Vorbildern wundert es nicht mehr, dass immer mehr Deutsche ihre Freizeit im Gerichtssaal verbringen. b.wientjes@volksfreund.de

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