Trotzig zum letzten Gefecht

BERLIN. Mit dieser sensationellen Wendung hatte niemand gerechnet. Gewiss wussten alle, dass es schlecht ausgehen würde im Ruhrpott. Doch dieser Paukenschlag verblüffte dann doch: Die SPD-Spitze kündigte Neuwahlen des Bundestags an.

Um 18.25 Uhr blieb den 300 Sympathisanten der SPD im Berliner Willy-Brandt-Haus der Mund offen stehen. Ungläubig schauten sie sich an. Gerade hatte SPD-Chef Franz Müntefering in grimmiger Entschlossenheit die Konsequenzen aus der dramatischen Wahlniederlage von Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen (NRW) gezogen und Neuwahlen "in diesem September" angekündigt. Die Leute waren perplex - und klatschten irritiert Beifall. Die Unsicherheit war mit Händen zu greifen, denn dieser spektakuläre Schritt, den Müntefering und Kanzler Gerhard Schröder zuvor ausgekungelt hatten, lässt viele Fragen offen: Wie soll das klappen, in einem knappen halben Jahr die miese Stimmung zu drehen? Und was würde es für die praktische Politik nützten, wenn das Wunder tatsächlich geschehen würde, wo doch Union und FDP im Bundesrat nunmehr über fast eine Zweidrittel-Mehrheit verfügen? Dass sich etwas Ungewöhnliches andeuten würde, war schon zu Beginn der tristen "Wahlparty" in der Parteizentrale klar geworden. Fragen nach dem Aufenthaltsort des SPD-Vorsitzenden wurden ausweichend beantwortet. Die Genossen wirkten unruhig und unsicher, und sie labten sich nur zögernd an den Speisen, die so bezeichnend zusammengestellt waren: "Blindhuhn nach rheinischer Art" gab es und "Sauermilch-Gelee". Weit häufiger als zu sonstigen Wahlabenden sah man Genossen mit Bierflaschen in der Hand. Offenbar wollte man den Frust hinunter spülen. "Zeit, dass die Verhältnisse im Land geklärt werden"

Gerade strahlten die Fernsehsender den Jubel-Auftritt der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel aus, als Müntefering auftauchte. Trotziger Beifall brandete auf. Ohne große Umschweife kam der Parteichef zur Sache und kündigte an, den Gremien der Partei vorschlagen zu wollen, "dass wir im Herbst Bundestagswahlen in Deutschland anstreben". Angesichts der erdrückenden Mehrheit der Union im Bundesrat sei es jetzt an der "Zeit, dass in Deutschland die Verhältnisse geklärt werden". Schröder und er wollten "die Entscheidung suchen", und er sei zuversichtlich, "dass wir es packen können". Frenetischer Applaus. Während bei den Grünen die gleiche Verwirrung herrschte - dem Vernehmen nach war nur Außenminister Joschka Fischer in den Coup eingeweiht -, formulierte Kanzler Schröder in seinem Amtssitz eine Presseerklärung, die er um 20 Uhr mit ernster Miene verlas. Es brauche seine Zeit, bis die Reformen wirkten, aber nach dieser Niederlage in NRW sehe er die "politischen Grundlagen für die Fortsetzung unserer Arbeit in Frage gestellt". Die Unterstützung der Mehrheit der Deutschen halte er aber für unabdingbar, und er hoffe, dass Bundespräsident Köhler "die Möglichkeiten des Grundgesetzes" eröffnen werde. Im Klartext: Schröder will offenbar die Vertrauensfrage stellen und trotzig ins womöglich letzte rot-grüne Gefecht ziehen. Optimistisch sah der Kanzler dabei nicht aus. Und er ging, ohne Fragen zuzulassen.

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