Die 86-jährige Juliette Gréco begeistert das Publikum im Theater Esch

Esch/Alzette · Ein Abend wie ein Geschenk: Juliette Gréco, die letzte lebende Ikone des französischen Chansons, Weggefährtin der Brel, Brassens, Piaf, Barbara, kam ins kleine, ausverkaufte Escher Stadttheater und zog 500 Zuschauer in ihren Bann.

Esch/Alzette. Es ist so ein Moment, in dem man unwillkürlich den Atem anhält. Im schwarzen, bodenlangen Abendkleid durchmisst die zierliche Frau die zehn Meter zwischen Hinterbühne und Mikrophon, mit kleinen, aber festen Schritten.
Das Publikum ist hin- und hergerissen zwischen Erwartungsfreude und Zweifeln, immerhin ist Juliette Gréco 86 - ein Alter, das Ehrfurcht einflößt, aber auch eine gewisse Angst, was denn von der Legende bleibt, wenn sie einem in wenigen Metern Entfernung gegenüber steht.Noch hungrig aufs Leben


Juliette Gréco zerstreut alle Bedenken innerhalb der ersten fünf Takte ihres Eröffnungstitels "Vivre". Ihre Stimme ist dunkler, rauer geworden, aber der Zauber ist geblieben. Mit großen Augen formuliert sie ihre Forderungen an das Leben, immer noch hungrig, immer noch zornig - ohne dass es wirkt wie aufgesetzte Nostalgie.
Wenn sie den "Train de nuit" mit ihren Erinnerungen an Verfolgung und Tod in Bewegung setzt, dann mit der Bemerkung, sie hätte nie gedacht, dieses Lied noch einmal singen zu müssen - aber heute sei es für viele wieder traurige Realität.
Immer noch singt die Gréco mit den Händen wie niemand sonst. Ausdrucksvoll unterstreichen sie die Geschichten, die sie erzählt, schweben durch die Luft, deuten, zeigen, kommunizieren, tanzen Ballett. Es sind die Hände eines Mädchens, nicht die einer alten Frau. Wie überhaupt Grécos Körpersprache ihr Alter vergessen lässt. Wenn sie lasziv-ironisch "Dés-habillez-moi" ("Ziehen Sie mich aus") singt, dann erstrahlt die Bühne nicht nur im roten Licht der Scheinwerfer, sondern auch durch die erotische Ausstrahlung der Sängerin.
Die schönsten Chansons des Abends haben freilich viel mit dem Blickwinkel des Alters zu tun. Es geht um Erinnern und Vergessen, um Festhalten und Verabschieden. Rührend die brüchigen Erinnerungen von "C\'était bien", in denen am Ende doch lebendig bleibt, was wichtig war. Traurig-intensiv "Avec le temps", ein Alterswerk von Leo Ferré, das das langsame Verlöschen beschreibt. Wütend Jacques Brels "J\'arrive", ein unversöhnlicher Dialog mit dem Tod, der dem Publikum Ovationen entlockt.
Überhaupt sind die Brel-Adaptionen Höhepunkte des Abends. Kein Wunder, sitzt doch Brels kongenialer Pianist und Komponist Gerard Jouannest an diesem Abend im Escher Theater am Klavier - seit 25 Jahren ist er Ehemann von Juliette Gréco. Auch er ist schon 80, steht aber dem virtuosen Akkordeonisten Jean-Louis Martinier um nichts nach, dessen Klangkaskaden einen stimmungsvollen Teppich für die Sängerin legen.Kein Klassiker fürs Publikum



Gréco beherrscht die Kunst, ihre Interpretationen aus dem Moment heraus entstehen zu lassen. Ihr - zumindest in Deutschland - bekanntester Titel "L\'Accordeon" klingt an diesem Abend völlig anders, als man ihn kennt. Und ans Ende der 75-minütigen Vorstellung setzt sie noch ein Glanzlicht: eine packende, von jeder Larmoyanz freie, fast unromantische Version von Brels "Ne me quitte pas".
Danach tastet sie sich vorsichtig am Flügel entlang zu ihren Mitspielern, um gemeinsam die Huldigungen des Publikums entgegenzunehmen. Irgendwann fordert das Alter doch seinen Tribut. Die Zuschauer klatschen sich die Seele aus dem Leib, hätten gerne noch einen Klassiker wie "Les feuilles mortes" gehört. Vielleicht beim nächsten Mal, in vier Jahren, bei der Tour zum Neunzigsten.

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