Literatur Jonas Lüscher zu Gast: Der Autor lässt sich über die Schulter blicken

Trier · Erst die Lektüre, dann das Vergnügen: Schülerinnen des Angela-Merici-Gymnasiums haben den Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher eingeladen, um mit ihm über seine Novelle „Frühling der Barbaren“ zu diskutieren

 Der Schriftsteller Jonas Lüscher ist spätestens seit der Auszeichnung mit dem Schweizer Buchpreis auch hierzulande bekannt. Jetzt besuchte der Autor das Angela-Merici-Gymnasium in Trier.

Der Schriftsteller Jonas Lüscher ist spätestens seit der Auszeichnung mit dem Schweizer Buchpreis auch hierzulande bekannt. Jetzt besuchte der Autor das Angela-Merici-Gymnasium in Trier.

Foto: Marla Faß

Wann hat man schon mal die Gelegenheit, einen Schriftsteller mit den Fragen zu löchern, die sich bei der Beschäftigung mit seinem Werk ergeben? Gar nicht – wenn man nicht selbst aktiv wird. Genau das sind die Schülerinnen des Grundkurses Deutsch der Klasse 13 am Angela-Merici-Gymnasium in Trier geworden – ganz ohne Initialzündung durch ihren Leiter Peter Krämer, wie dieser betont. Der hatte, nachdem seine Klasse den Wunsch geäußert hatte, mit dem Autor Aug’ in Auge zu diskutieren, „nur“ den Kontakt zum Verlag hergestellt, dieser wiederum bei ihm angefragt – und Jonas Lüscher hatte sich tatsächlich bereit erklärt, mit den Schülerinnen über seine Novelle „Frühling der Barbaren“ zu diskutieren. Und sich nicht nur den Fragen der Klasse, sondern öffentlich im Atrium des Gymnasiums auch denen des Publikums zu stellen und es darüber hinaus mit einer Art Uraufführung zu überraschen.

Lüscher las einen Abschnitt aus „Verzauberte Vorbestimmung“, einem Romanprojekt, das noch im Entstehen ist und auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs führt. Erscheinungstermin – noch ungewiss, da er „ein sehr langsamer Schreiber“ sei, wie Lüscher gestand.

Zuvor jedoch, im intimeren Klassenverbund, wurde der „Frühling der Barbaren“ seziert. Im Mittelpunkt seines ersten, mehrfach ausgezeichneten Werks – die ätzende Gesellschaftssatire erschien 2013 – steht die Hochzeitsfeier eines Paares aus der britischen Finanzelite in einem tunesischen Luxushotel. Nach einem Londoner Börsencrash stürzt die betuchte Gesellschaft unversehens in die Mittellosigkeit und driftet nach und nach in die Barbarei ab.

Er freue sich, eröffnet Lüscher das Gespräch, dass die Gattung im Deutschunterricht einmal nicht anhand einer Eichendorff- oder Gottfried-Keller-Novelle behandelt werde, sondern mit einem „modernen“ Werk, und dass es ausgerechnet seines sei, ehre ihn natürlich. Wie die Novelle denn in Tunesien aufgenommen worden sei, will eine Schülerin wissen, und trifft mit ihrer Frage ziemlich ins Schwarze, denn Lüschers Beschreibung des Landes und seiner Bewohner ist bei seinen Lesereisen durch das nordafrikanische Land auf teils harsche Kritik gestoßen. Wobei man mittendrin ist in der Frage, wie sehr ein Autor auf die Befindlichkeiten anderer Menschen Rücksicht nehmen muss – und was man angesichts von „wokeness“ und „cancel culture“ überhaupt noch schreiben dürfe.

Literatur darf nie schwarz-weiß sein, antwortet Lüscher. Sie müsse Grautöne, Ecken und Kanten enthalten, andernfalls sei sie langweilig und mache sich irgendwann selbst überflüssig. „,Frühling der Barbaren‘ ist natürlich kein Buch über Tunesien“, betont er. „Es schafft kein Verständnis für Tunesien, sondern eher für den europäischen Blick auf Tunesien.“ Was vor allem die jüngeren Leser sofort durchschaut hätten, weil die „postmodern durchimprägniert sind: Die wissen, dass es bei jedem Leseerlebnis eine Ebene und eine Metaebene und noch eine dazwischen und drunter und drüber gibt“, die von Ironie durchdrungen seien.

Von dort ist der Weg nicht weit zu den Übersetzungsproblemen: Die Barbaren im Titel wurden im Arabischen zu „Berbern“, was in Tunesien ebenfalls für Stirnrunzeln sorgte, wie Lüscher berichtet, da die einen mit den anderen ja nun wirklich nichts zu tun hätten. Und wenn er rechtzeitig informiert worden wäre, hätte er gegen den arabischen Titel Einspruch erhoben. Im Großen und Ganzen sei er allerdings mit seinen Übersetzerinnen zufrieden, die ihm nicht nur ausführliche Listen mit Fragen schickten, sondern ihm bisweilen auch die Augen für die eigenen Widersprüche und Ungenauigkeiten in seinem Werk öffneten, wie er schmunzelnd gesteht.

Mit sichtlichem Vergnügen nimmt er zur Kenntnis, wie tief die Schülerinnen in den Stoff eingedrungen sind. Eine von ihnen glaubt, Parallelen zum Aeneas-Mythos Vergils entdeckt zu haben. Ob er diese Anspielung bewusst eingebaut habe? „Sehr kreativ, großartig, stimmt sicher alles“, lobt er. „Ich hab nur nie daran gedacht.“ Möglicherweise habe da sein Unterbewusstsein die Finger im Spiel gehabt, meint er. Abgesehen davon: Wenn ein Buch auf den Leser trifft, verliert sein Urheber einen Teil seiner Deutungshoheit über das, was er geschrieben hat.

Da Lüscher ausdrücklich zu allen möglichen Fragen, auch privater Natur, aufgefordert hat, kommt die Rede auf seine Corona-Erkrankung, die er nur knapp überlebt hat. Sieben Wochen lag er im Koma – „eine furchtbare Zeit, denn man ist ja nicht ,weg‘. Man kriegt vieles aus der Außenwelt mit, und ich hatte sieben Wochen lang schreckliche Visionen und grauenhafte Alpträume von Krieg und Gefangenschaft.“

Kein Wunder, dass er für Impfgegner und Querdenker keinerlei Verständnis hat. Seine Erfahrung, auch dies eine Frage aus der Runde, würde er freilich nicht zu einem Roman verarbeiten: Alles, was sich derzeit mit dem Virus beschäftige, seien lediglich Schnellschüsse. Es müssten schon einige Jahre vergehen, ehe man das ganze Ausmaß der Konsequenzen übersehen und in eine überzeugende literarische Form gießen könne.

Durchaus pragmatisch ist die Frage einer Schülerin am Ende der Klassendiskussion: Er zeige seine Manuskripte doch als Erstes seiner Frau. Sei es da schon mal vorgekommen, dass sie gesagt habe: „Unmöglich. Das kannst du nicht veröffentlichen“? Jonas Lüscher schmunzelt. „Nein. Das gab‘s zum Glück noch nicht.“ Gegen Ende der Veranstaltung schaut Peter Krämer vielsagend auf die Uhr. Der Gast reise noch am Abend zurück nach München, erläutert er, und er müsse ihn zum Bahnhof bringen. Allerdings sei auf dem Weg noch ein Zwischenstopp vorgesehen: „Wir wollen unbedingt an der Porta Nigra vorbeifahren. Herr Lüscher hat sie nämlich noch nie live gesehen.“

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