Auf dieses Feindbild können sie bauen

Wäre die Lage nicht so ernst, ließe sich scherzhaft fragen, was denn die Nato ohne ihr altes Feindbild überhaupt machen würde. Der Wales-Gipfel der Allianz hat gerade offiziell den Abzug der letzten Kampftruppen aus Afghanistan zum Jahresende bestätigt, auch die älteste Mission auf dem Balkan neigt sich dem Ende zu.

Noch vor Jahresfrist überlegten sie im Brüsseler Hauptquartier fieberhaft, wie eine neue Aufgabenbeschreibung im Anschluss denn aussehen könnte.
Aber das ist passé. Mit den Ereignissen in der Ukraine und der Rückkehr der Kriegsgefahr in Europa hat sich die Sinnfrage für die Nato erst einmal erübrigt. Der alte Widersacher Russland, inzwischen erwiesenermaßen in die Aktionen der ostukrainischen Separatisten verstrickt, ist auch der neue. Der Nato-Gipfel in Wales markiert deshalb - auch ohne letztlich wirklich überraschende Ergebnisse - eine historische Zäsur in der mittlerweile 65-jährigen Geschichte des Bündnisses.
Auf die Gründungsära des Kalten Krieges und die der Interventionen in aller Welt folgt nun eine Wiederbesinnung auf das Kerngeschäft, die Grenzsicherung mit Flugzeugen, Panzern und Soldaten. Im Zentrum allen Denkens steht wieder Artikel 5 des Nordatlantikpakts, der Schutz der eigenen Mitglieder nach dem Motto: Ein Angriff auf dich ist auch ein Angriff auf mich. Man kann der Nato kaum vorwerfen, diese neue alte Rolle bewusst angestrebt zu haben.
Sicher, der Westen hat Fehler im Umgang mit der Ukraine gemacht und gnadenlos unterschätzt, wie wichtig das Land in der russischen Überlegung hinsichtlich der eigenen Renaissance als zweiter globaler Supermacht ist. Doch es sind die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die inzwischen nicht mehr übersehbare Beteiligung an der Destabilisierung der Ost-ukraine gewesen, die in den alten Warschauer-Pakt-Staaten die alten Ängste schürte, die nun zum Nato-Beschluss geführt haben, in Osteuropa aufzurüsten.
Denn dort, so die wenig schmeichelhafte Analyse der Militärs, ist die Allianz nicht nur bedingt, sondern überhaupt nicht abwehrbereit. Für das Baltikum existierten bis vor kurzem nicht einmal Verteidigungspläne. Es ist klug, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel und andere dem osteuropäischen Drängen nach einer dauerhaften Truppenstationierung vorerst nicht nachgegeben haben und die erhöhte Kampfbereitschaft des Bündnisses sich erst einmal darauf beschränkt, Basen in Osteuropa auf den Ernstfall vorzubereiten und eine schnelle Eingreiftruppe für Osteuropa vorzuhalten, die sich gemäß eines alten Abkommens mit Russland aber vor allem im "Westteil" der Allianz für einen Einsatz in Osteuropa bereithalten wird. Dieser eigene Versuch, rechtstreu zu bleiben, hält diplomatische Türen offen. Abschreckung ist schließlich kein Selbstzweck, Ziel muss die Rückkehr zu partnerschaftlichen, wenigstens aber stabilen Arbeitsbeziehungen mit Russland sein.
nachrichten.red@volksfreund.de

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