Interview „Die EU ist widerstandsfähig“

Der Trierer Europaexperte warnt vor zunehmendem Populismus und Nationalismus. Das Brexit-Chaos wirke abschreckend auf Kritiker.

 Joachim Schild ist seit 2003 Professor für Politikwissenschaft an der Uni Trier. Seine Schwerpunkte sind die deutsch-französischen Beziehungen und die europäische Integration.

Joachim Schild ist seit 2003 Professor für Politikwissenschaft an der Uni Trier. Seine Schwerpunkte sind die deutsch-französischen Beziehungen und die europäische Integration.

Foto: Andreas Thull

Viel ist derzeit davon die Rede, dass diese Wahl eine Schicksalswahl ist. Sehen Sie das auch so? Worin unterscheidet sich diese Wahl von den vorherigen Europawahlen?

JOACHIM SCHILD Die Rede von der Schicksalswahl ist wahlkampfbedingte Übertreibung. Wir werden Zugewinne populistischer, europa-skeptischer Parteien und Kandidaten bei der Wahl zum Europaparlament erleben. Sie werden aber weit von einer Mehrheitsfähigkeit entfernt bleiben. Der Unterschied zu früheren Europawahlen liegt darin, dass die proeuropäischen Parteien der linken und rechten Mitte auf die populistisch-nationalistische Herausforderung reagieren und die europäische Idee aktiv verteidigen.

Warum erhalten ausgerechnet europafeindliche Parteien einen Zulauf?

SCHILD Die Gründe dafür sind vielfältig. Eine Abfolge von Krisen – internationale Finanzmarkt-, die Eurokrise und die Flüchtlingskrise –  haben das Vertrauen vieler Bürger in die Politik – die nationale wie europäische – erschüttert. In vielen europäischen Staaten hat die soziale Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten zugenommen, auch das Gefälle zwischen dynamischen Großstadtregionen und ländlichen Gebieten, deren Bewohner sich abgehängt fühlen. Am stärksten hat jedoch die Flüchtlingswelle 2015 gewirkt, da Migrations- und Identitätsfragen das zentrale Mobilisierungsthema für rechtspopulistische und –extreme Parteien waren und sind.

Bei vielen Bürgern wird Europa noch immer mit Bürokratie und unsinnigen Vorgaben in Verbindung gebracht. Warum ist Europa noch immer nicht in den Köpfen vieler Bürger angekommen?

SCHILD Das hängt gewiss damit zusammen, dass die Aufmerksamkeit der Medien sehr viel stärker auf die nationale Politik gerichtet ist. Die EU scheint weit entfernt. Und eine europäische Öffentlichkeit gibt es allenfalls in Ansätzen. In einem solchen medialen Umfeld, in dem die Berichterstattung über EU-Themen nachrangig ist, können sich Vorurteile gut halten. So ist beispielsweise kaum wahrgenommen worden, dass in der letzten Legislaturperiode die Zahl der verabschiedeten Gesetze drastisch reduziert wurde und veraltete Rechtsvorschriften aufgehoben wurden.

Außer bei der Wahl des Parlaments haben die Bürger keine Mitbestimmungsmöglichkeit in der EU. Würde mehr direkte Demokratie etwa durch Direktwahl des Kommissionspräsidenten und Volksabstimmungen die Akzeptanz der EU stärken?

SCHILD Volksabstimmungen würden geradezu ideale Bühnen für Populisten und Nationalisten bieten und politische Spaltungen in der EU vertiefen. Ein komplexes Gebilde wie die EU hat aber einen hohen Konsensbedarf. Repräsentative Formen der Demokratie sind für die geduldige Suche nach notwendigen Kompromissen viel geeigneter. Die Direktwahl des Kommissionspräsidenten würde den Bürgern eine starke Gestaltungsmacht des Amtsinhabers vorgaukeln. Der Kommissionspräsident ist aber kein Regierungschef, und die Mitgliedstaaten werden auch nicht zulassen, dass er einer wird.

 Hat die Brexit-Diskussion die Europaskepsis eher verstärkt oder hat sie dazu geführt, dass mehr Menschen erkennen, welchen Vorteil Europa hat? Schadet der Brexit-Hickhack Europa?

SCHILD Seit dem Brexit-Referendum ist die Zahl derjenigen, die die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU gutheißen, allen Umfragen zufolge deutlich angestiegen. Die Probleme und Kosten, die ein Austritt aus der EU verursacht, sind den meisten Bürgern mit der Brexit-Debatte deutlich vor Augen geführt worden. Das Brexit-Chaos wirkt abschreckend.

Wie stark ist Europa? Wird die EU auf Dauer zusammenhalten und zu einer tatsächlichen politischen Macht oder bleibt sie ein zahnloser Tiger und bricht irgendwann auseinander?

SCHILD Die EU hat im vergangenen Krisenjahrzehnt durchaus Widerstandsfähigkeit gezeigt und wichtige Reformen auf den Weg gebracht, etwa in der Eurozone. Aber Spaltungs- und Desintegrationstendenzen sind durchaus sichtbar geworden – zwischen Nord und Süd in der Eurokrise, zwischen West und Ost in der Flüchtlingskrise. Die Hauptgefahr für die EU geht heute jedoch von Populisten und radikalen Parteien – von rechts und links – in ihren Mitgliedstaaten aus, die ja inzwischen in einer Reihe von Ländern die Regierung stellen oder daran beteiligt sind – in Italien, Polen, Ungarn, Griechenland, jüngst auch in Estland. Die EU braucht als Fundament starke rechtsstaatliche Demokratien in den Mitgliedstaaten. Der Rechtsstaat, die Gewaltenteilung und die Medienfreiheit werden jedoch in einigen Mitgliedsländern frontal angegriffen. Der interne Zusammenhalt der EU ist geschwächt, aber die äußeren Herausforderungen für die EU werden gleichzeitig größer – vom Aufstieg der selbstbewussten Macht China über die nationalistische Außen- und Handelspolitik Donald Trumps  bis zum sich beschleunigenden Klimawandel.

Was muss getan werden, damit der Zusammenhalt in der EU wächst?

Die Nationalfahnen der EU-Mitgliedstaaten wehen vor dem Europäischen Parlament in Straßburg.                                                                                                                               Foto: dpa

Die Nationalfahnen der EU-Mitgliedstaaten wehen vor dem Europäischen Parlament in Straßburg.                                                                                                                              Foto: dpa

Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbrand

SCHILD Wichtig wäre, die Eurozone krisenfester zu machen und die Kontrolle der Außengrenzen zu verbessern, um im Schengenraum die während der Flüchtlingskrise eingeführten Binnengrenzkontrollen wieder abschaffen zu können. Eine zentrale Herausforderung für die nächsten Jahre wird die Verbesserung der außen- und sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit der Europäer sein, notfalls in Teilgruppen von Mitgliedstaaten, wenn nicht alle mitmachen möchten. Wenn die EU liefert, wird auch die Unterstützung durch die Bürger wachsen und den Populisten und Nationalisten der Nährboden entzogen.“

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