Aufgeschlagen - Neue Bücher

Es war die Rote Armee, die Estland vom Faschismus befreite - im Herbst 1944. Doch bevor die russischen Truppen das Land besetzten und das Leben völlig umkrempelten, existierte fünf Tage lang eine freie Republik Estland. In aller Eile hatten die deutschen Besatzer die Flucht ergriffen - es blieb mithin keine Zeit mehr, alle Beweise für ihre Gräueltaten zu vernichten.

Dieser Umbruch steht im Mittelpunkt des neuen Romans von Sofi Oksanen, der estnisch-finnischen Erfolgsautorin, der passend zum Gastland Finnland der Frankfurter Buchmesse soeben auf Deutsch erschienen ist. Zwei Cousins, Stiefbrüder, hängen verschiedenen Ideologien an. Roland lässt sich zum Freiheitskämpfer ausbilden und sammelt Beweise für die Schandtaten der Besatzer. Als seine Braut auf rätselhafte Weise verschwindet, geht er in den Untergrund, lebt in Wäldern und leerstehenden Häusern. Zunehmend muss er aber seinen Cousin Edgar fürchten - einen feigen Karrieristen, der sich immer auf die Seite schlägt, die politisch opportun ist. Er kollaboriert mit Bolschewisten und deren Gegnern und dient sich skrupellos Nazis und Sowjets an, indem er Leute bespitzelt, denunziert, verrät. Immer aber sitzt auch ihm die Angst im Nacken, dass ein gerade nichtopportuner Teil seiner Vergangenheit ans Licht kommt, ihn niederstreckt, bevor er selbst den Spieß umdrehen kann. Es gibt da so einiges, was nicht herauskommen soll. Sofi Oksanen gelingt es auf packende Weise, ein halbes Jahrhundert des Totalitarismus in Estland lebendig werden zu lassen. Die Polarität der Hauptfiguren, ihr Katz- und Maus-Spiel, spitzt die Geschehnisse streckenweise krimihaft zu und hält die Spannung bis zum Schluss. Als schwierig erweist sich die Erzählstruktur: Schlaglichtartig werden verschiedene Handlungsstränge in den 1940er und den 60er Jahren weitergeführt - der Leser muss sich immer wieder neu orientieren, was auch mit umfangreichem Glossar und Personenliste im Anhang manchmal etwas kompliziert ist. Dennoch: Die Figuren und Schicksale überzeugen, besonders die provokante Gestalt von Edgar macht menschliche Abgründe erfahrbar, die einen gruseln lassen.Annemarie Heucher Sofi Oksanen, Als die Tauben verschwanden, Roman, aus dem Finnischen von Angela Plöger, Kiepenheuer & Witsch, 432 Seiten, 19,99 Euro.

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