KOLUMNE

A ls Kulturbürger lieben mein Mann und ich das Theater. Um so glücklicher können wir uns schätzen, fast täglich in den Genuss mindestens einer Aufführung zu kommen. Zwei Nachwuchsschauspieler in unserem Haushalt sorgen mit ihren Auftritten regelmäßig für Spannung.

Immer, wenn die Geräuschentwicklung der Proben im Obergeschoss die Zimmerlautstärke im Untergeschoss übersteigt, beschleunigt sich unser Puls spürbar. "Geben sie heute eine Tragödie oder eine Komödie?", fragen wir uns. Die Antwort geben Geschwindigkeit und Lautstärke der die Treppe hinunter stampfenden Schritte. Eine Tragödie also, diesmal ausgelöst vom erbitterten Kampf um eine Tafel Schokolade. Klassisches Motiv: Die Eifersucht. "Ich will die Hälfte!" "Du hast gestern schon einen Riegel mehr gehabt!" "Da warst Du ja auch nicht da!" "Das ist unfair, immer kriegst Du mehr, nur weil ich öfter weg bin. Warum muss ich nur einem kleinen Bruder haben, der immer bevorzugt wird?" Höchste Zeit, die Regie zu übernehmen! "Wir teilen jetzt ganz fair", rege ich an. Fatalerweise mahne ich aber den kleinen Bruder ab, weil seine Bereicherung in Abwesenheit der Schwester meistens auf elterlich nicht abgesegneten Raub zurückgeht. Augenblicklich verliere ich sowohl meine Position als Regisseurin als auch die der Zuschauerin, um mich als Teil einer modernen Performance wiederzufinden. "So, da haben wir es mal wieder. Wenn ich die Schokolade geklaut hätte, hättet Ihr ganz anders reagiert!" "Reg Dich doch nicht immer gleich so auf," versuche ich zu besänftigen. Aber da zeigt sich die Mimin in Höchstform. Mit verschränkten Armen und stolz erhobenem Kopf, dabei nachdrücklich auf den Boden stampfend, schmettert sie: "Das ist eben mein Charakter, den könnt Ihr nicht ändern!" Bravo, bravo, bin ich geneigt zu jubeln, doch dazu bleibt keine Zeit mehr. Mit ausgeprägtem Gespür für dramaturgische Höhepunkte wählt die Diva einen plötzlichen Abgang mit knallender Tür. Dann schnappt hörbar das Schloss der Künstlergarderobe im Badezimmer zu. Unsere Spannung weicht einem Hoffnungsschimmer, denn die Gegenwart eines Spiegels vollbrachte schon so manches Wunder. Nach einer halben Stunde und dem reumütigen Angebot des Bruders: "Okay, Du kriegst zwei Riegel mehr", geht die Tür auf. Eine bizarr frisierte junge Dame beglückt die Anwesenden mit einem gnädigen Blick unter getuschten Wimpern hervor. Wir lehnen uns entspannt zurück, denn der Akt, der jetzt folgt, ist ein Lustspiel. Anke Emmerling In unserer Kolumne "Familienbande" glossieren wechselnde Autoren den familiären Alltag. Das gleichnamige Buch mit 60 Kolumnen ist für 9,90 Euro in allen TV-Pressecentern erhältlich.

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