leserbriefe Die Aufgabe: Entfrustung der Enttäuschten

Zur Berichterstattung über die  Gewaltexzesse in Chemnitz schreibt Michael Wilmes:

Auffallend häufig und intensiv gibt es die gewaltträchtigen fremdenfeindlichen Demonstrationen im Osten. Nun gibt es eine Reihe von Erklärungsansätzen, die vom Fehlverhalten der Regierungsverantwortlichen bis hin zu sozialer, sprich ökonomischer Ungleichheit in den mittlerweile nicht mehr ganz so „Neuen Ländern“ reichen.

Sicher trifft das meiste davon zu, aber ich sehe noch einen Aspekt, der meines Wissens kaum oder gar nicht publiziert erscheint: Ich hatte 1970 die Gelegenheit, von Oberhausen aus nach Erfurt und Weimar zu reisen. Unmittelbar nach dem Grenzübertritt überkam mich das Gefühl, im Deutschland der dreißiger oder vierziger Jahre zu sein. Von der Uniformierung der Soldaten über die der Polizei und der Reichsbahnangehörigen bis hin zu den sehr häufig anzutreffenden Spruchbändern, allerdings mit SED-angestoßenen Parolen, glichen sie Bildern aus jener Zeit.

Die Häuser wirkten meist grau, und die Straßen waren bis auf Ausnahmen kopfsteingepflastert. Im Restaurant bekam man einen „Deutschen“, einen Schnaps, wohl im Gegensatz zum russischen Wodka. Farbige, weder aus Afrika noch aus Asien, sah ich nirgends. Auch Russen kaum. Obwohl es sie gab, alle diese Fremden, aber kaserniert. Dann, 20 Jahre später, fuhr ich am 17. März 1990 mit dem damaligen Sonderzug von Trier nach Weimar. Dort, auf dem Bahnhof, wurden wir von Weimarer Gastgebern erwartet. Etwas abseits auf einem anderen Bahnsteig stand eine Gruppe junger Leute, die sehr lautstark, fast mit aggressivem Unterton „Deutschland! Deutschland!“ mit nach oben zur Faust geballten  Hand skandierten.

Beide Erfahrungen, das „vorgestrige“ Deutschland-Erlebnis von 1970 und diese junge Gruppe, gaben mir damals schon und geben mir heute erst recht zu denken. Viele Menschen im Osten, offenbar sehr viele, fühlen sich vermutlich sowohl von der Migrations- als auch der Europapolitik (besonders vom Euro) überfahren und getäuscht, schlicht überfordert. 1990 dachte man mehrheitlich dort wohl eher an eine wirklich nationale Wiedergeburt, diesmal eine „echte“, ohne die sowjetische und SED-Dominanz. Klar, dass das ein „gefundenes Fressen“ für Rechtsextreme ist, die sich daran aufbauen. Noch sind diese Schreier und (Tot-)Schläger eine Minderheit unter den alles in allem friedlich Protestierenden.

Gewaltexzesse zu missbilligen, versteht sich von selbst. Die Enttäuschten zu entfrusten, ist eine andere, sehr viel schwierigere und herausforderndere Aufgabe.

Michael Wilmes, Ralingen

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