Die Europäische Union: It's the politics, stupid!

Gastbeitrag von José Manuel Barroso

Das letzte Jahrzehnt des europäischen Integrationsprozess war von historischen Ereignissen geprägt, darunter die Erweiterung um zwölf neue Länder, aber auch von beispiellosen Krisen, vom Zusammenbruch der Finanzmärkte bis zu aktuellen Entwicklungen in der Ukraine - vielleicht die größte Herausforderung für Sicherheit und Frieden in Europa seit dem Fall der Berliner Mauer.

Viele der Konsequenzen der Wirtschaftskrise waren natürlich negativ. Spannungen zwischen "Zentrum" und "Peripherie", zwischen "reicheren" und "ärmeren" Mitgliedstaaten, zwischen "Gläubigern" und "Schuldnern", zwischen Nord und Süd sind wieder sichtbar geworden. Das Gefühl eines Verlustes von Fairness und Gerechtigkeit stellt sich ein. Es gab einen dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit und unser Sozialmodell wurde einer ernsthaften Belastungsprobe unterzogen.

Aber die Krise hat auch unsere Überzeugung gestärkt, dass Reformen notwendig sind, wenn wir Wettbewerbsfähigkeit, Produktivität, Beschäftigung in Europa und letztlich unser europäisches Wachstumsmodell bewahren wollen. Und sie hat unser Bewusstsein für gegenseitige Abhängigkeit vertieft.

Um Frieden und Wohlstand in Europa zu sichern, brauchen wir eine Europäische Union, die viel mehr bereit ist, zusammenzuarbeiten, ihre Macht international einzusetzen und ihre Rolle und ihren Einfluss zu stärken. Eine neue Weltordnung entsteht. Entweder tragen wir dazu bei, diese neue Ordnung zu gestalten, oder wir verpassen die Zukunft. Europa wird entweder seinen Zusammenhalt weiter verstärken oder in der Bedeutungslosigkeit versinken.

Das heißt, die Europäische Union muss sich weiterentwickeln. Ich glaube, wir müssen unsere politische Union ausbauen. Das muss organisch ablaufen, es darf keine abrupte Veränderung sein. Reform, nicht Revolution - diese Lehre ziehe ich aus meiner europäischen Erfahrung, hauptsächlich aus meinen zehn Jahren als Präsident der Europäischen Kommission.

Die Ereignisse des letzten Jahrzehnts zeugen von der außerordentlichen Anpassungsfähigkeit der Institutionen der Europäischen Union. Man könnte von "Plastizität" sprechen: Sie passen ihre Form den Gegebenheiten an, bewahren aber ihre Substanz. Und das ist genau das, was wir auch jetzt tun, um uns den Herausforderungen unserer Zeit zu stellen.

Wir müssen einen neuen Grad politischer Reife erreichen, der den Entscheidungen angemessen ist, die wir gemeinsam treffen müssen. Damit eine stärkere EU entstehen kann, müssen wir die mangelnde Identifizierung mit diesen gemeinsamen Entscheidungen angehen. Weil Schlüsselakteure oft nicht dafür einstehen, wenn Europa Verantwortung übernehmen soll, erstarkt der Populismus. Wir sollten es den Populisten nicht so einfach machen.

Für die nächste Phase der europäischen Integration brauchen wir politische und gesellschaftliche Unterstützung auf breiter Basis. Früher kam der Impuls für die europäische Integration stets sowohl von unten als auch von oben. Die europäische Integration basierte auf einer klaren Zielvorstellung, einer klaren Idee der Notwendigkeit Europas. Verträge und Institutionen waren stets Ausdruck des politischen Willens. Die öffentliche Meinung können wir nicht - und sollten wir nicht - forcieren. Aber wir müssen versuchen, den notwendigen Konsens zu schmieden. Wir brauchen eine neue Debatte, um Europa weiter voranzubringen. Wir brauchen eine echte Identifizierung mit dem europäischen Projekt auf europäischer und auf nationaler Ebene.

Die Herausforderungen, die jetzt vor uns liegen, müssen anhand folgender Fragen geprüft werden: Erstens, welche Politik ist notwendig? Zweitens, welche Maßnahmen sind erforderlich? Und drittens, wie muss der Rahmen aussehen, um die ersten beiden Punkte zu erreichen? In dieser Reihenfolge.

Bevor wir also die technischen Einzelheiten eines weiteren Vertragswerks diskutieren, müssen wir die folgende Frage beantworten: Was ist der von allen getragene Zweck unserer Union? Inwieweit verknüpfen wir unser Schicksal miteinander? Wie weit und wie tief soll die Integration gehen, wer will woran beteiligt sein und zu welchem Zweck? Ob es um die weitere wirtschaftliche Integration zur Schaffung einer echten Wirtschafts- und Währungsunion, eine einheitlichere Außenpolitik oder weitere Schritte zu einer politischen Union geht: diese Fragen müssen wir zuerst diskutieren.

Die politischen Akteure Europas müssen ihrem Engagement für unser gemeinsames europäisches Projekt Taten folgen lassen.

Im Verlauf der Krise ist schließlich der politische Wille zum Handeln sichtbar geworden. Von neuen Regeln für die Wirtschafts- und Haushaltsaufsicht bis zur stärkeren Regulierung und Überwachung des Finanzsektors: Immer, wenn 17 oder 18 Mitgliedstaaten ein ehrgeizigeres Projekt in Angriff genommen haben, haben fast alle anderen Mitgliedstaaten mitgemacht und mitgezogen. Die Zentripetalkräfte haben sich immer wieder als stärker erwiesen als die Zentrifugalkräfte. Der Trend ging stets zu mehr, nicht weniger Integration, und zu mehr, nicht weniger Befugnissen für die europäischen Institutionen wie die Europäische Kommission oder die Europäische Zentralbank.

Die Dialektik der europäischen Politik zeigt sich oft in einem System, in dem alle anderen es sich leisten können, ein bisschen Regierung und ein bisschen Opposition zu sein, in dem Erfolge nationalisiert und Probleme europäisiert werden. Wir müssen ein neues Kooperationsverhältnis zwischen der Union, ihren Institutionen und den Mitgliedstaaten entwickeln, eine Loyalität zwischen den Institutionen und den Mitgliedstaaten, die über das hinausgeht, was in den Verträgen steht.

Anhaltende Reform setzt voraus, dass nationale Entscheidungsträger sich nicht nur als nationale, sondern gleichzeitig auch europäische Akteure sehen und die derzeitige Umsetzungslücke schließen. Die von den Staats- und Regierungschefs getroffenen Entscheidungen müssen auf nationaler Ebene weiterverfolgt werden.

Anhaltende Reform bedeutet auch, dass das Europäische Parlament seine Rolle als Entscheider aktiv annehmen muss, statt als Resonanzboden für die Forderungen anderer zu fungieren, ohne Rücksicht auf ihre Durchführbarkeit. In den letzten zehn Jahren hat das Parlament gezeigt, dass es das Spiel beherrscht - von der Verabschiedung des EU-Haushalts bis zum Abschluss der Bankenunion.

Anhaltende Reform bedeutet auch, dass die Kommission unverzichtbar und die Stelle ist, an der die Fäden der europäischen Politik zusammenlaufen. Auch wenn das Ergebnis nicht immer unseren Vorstellungen entsprach, hat die Kommission während der Krise die entscheidenden Vorschläge auf den Tisch gelegt: Das neue Instrumentarium zur Finanzstabilisierung (Finanzstabilisierungsmechanismus EFSM, Finanzstabilitätsfazilität EFSF und später der Stabilitätsmechanismus ESM); die Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung; die Bankenunion; die Bekämpfung der Steuerhinterziehung und Initiativen gegen Jugendarbeitslosigkeit, um nur einige Beispiele zu nennen. Nirgendwo sonst in der Union sind horizontales Wissen - die Kenntnis der unterschiedlichen Gegebenheiten in den Mitgliedstaaten - und vertikales Wissen - die europapolitische Expertise - stärker gebündelt.

In Europa bedeutet Führung Konsensbildung und die Vermeidung einer Fragmentierung. Deswegen habe ich auch dafür gesorgt, dass die von mir geleiteten Kommissionen kollektiv die Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen. Eine politische Exekutive ist schließlich kein Miniatur-Parlament. So wichtig es ist, den politischen Charakter der Kommission anzuerkennen; so wichtig ist es jedoch auch zu verhindern, dass die Kommission von einer Seite vereinnahmt wird.

Es wird keinen europäischen "Philadelphia-Moment" geben, keine konstitutionelle Wiedergeburt des gesamten EU-Rahmens. In der EU wird es auch weiterhin eher "permanente Reform" als "permanente Revolution" geben. Damit diese permanente Reform gelingt, müssen wir zuerst die europäische Politik auf den richtigen Weg bringen. Keine Vertragsänderung, keine institutionellen Maßnahmen können den politischen Willen ersetzen, Europa voranzubringen.

Die europäische Integration wird immer schrittweise vor sich gehen. Ein solcher pragmatischer Ansatz stand nie im Widerspruch zur Verwirklichung einer Vision. Ganz im Gegenteil!

Die europäische Integration ist und bleibt das ambitionierteste Projekt der jüngsten Geschichte. Ihre Energie und Anziehungskraft sind außerordentlich, ihre Anpassungsfähigkeit beispiellos. Dies gilt aber nur, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind: wenn nationale Politiker Verantwortung für das europäische Projekt übernehmen und Europa nicht als eine äußere Einmischung behandeln, wenn die Kooperation einen neuen Reifegrad erreicht und wenn Europa politisch in die Offensive geht.

Genau darum geht es bei der bevorstehenden Europawahl. Sie ist ein entscheidender Moment, sich für die bisherigen Errungenschaften einzusetzen und einen Konsens darüber zu finden, was getan werden muss, für das wirkliche Europa einzutreten und eine Vision davon zu entwerfen, wie Europa sein könnte. Diese Wahl ist überaus wichtig.

In den zehn Jahren als Präsident der Europäischen Kommission durfte ich einen Beitrag leisten, als es darum ging, einige äußerst bedrohliche Krisen in der Geschichte der Europäischen Union zu meistern, und ich bin stolz auf die Reformen, die wir seitdem umgesetzt haben. Der wahre Lohn erwächst jedoch nicht aus der Einleitung, sondern aus der Vollendung der notwendigen Schritte.

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