Umweltschutz im Alltag TV-Serie Klimaschutz konkret – Ein Mann auf der Jagd nach der grünen Null

Trier/Aachen · Wenn Dirk Gratzel stirbt, will er keine ökologischen Schulden hinterlassen. Und so hat der erfolgreiche Unternehmer sein Leben komplett auf den Kopf gestellt: Er isst anders, reist anders, kauft anders. Wissenschaftler begleiten den radikalen Selbstversuch, den es so noch nie gab. Die ersten Ergebnisse erschrecken den Aachener.

 Dirk Gratzel will die Umweltsünden seiner Vergangenheit wieder gut machen.

Dirk Gratzel will die Umweltsünden seiner Vergangenheit wieder gut machen.

Foto: Gratzel/privat

Mit Ökothemen hatte Dirk Gratzel nichts am Hut. „Bis auf das Freisetzen von Kern­energie habe ich fast alles gemacht, was ich nicht tun sollte“, sagt der erfolgreiche Aachener Unternehmer, der 1968 in Essen als klassisches Unterschichtskind geboren wurde. Aus seinem Kinderzimmerfenster blickte er auf einen Zecheneingang. Seine erste Schlittenfahrt machte er 1971 auf einer Kokshalde. Mit viel Unterstützung, Glück und harter Arbeit habe er Abitur gemacht, studiert, promoviert und sich selbstständig gemacht. Gratzlers Unternehmen Precire entwickelt Künstliche Intelligenz, die in der Lage ist, Sprache zu analysieren und daraus psychologische Schlüsse zu ziehen. Eine Technologie, die immer öfter bei Bewerbungsgesprächen zum Einsatz kommt – doch das ist eine andere Geschichte.

Die Geschichte, die wir heute erzählen wollen, ist jene eines Mannes, der sich einem radikalen Selbstversuch unterzieht. Gratzel, der bis vor kurzem mit PS-starken Autos 60 000 bis 70 000 Kilometer im Jahr zurücklegte und regelmäßig ins Flugzeug stieg, um zu beruflichen Terminen oder in den Urlaub zu jetten, hat zu seinem 50. Geburtstag eine – wie er sagt – „simple Entscheidung“ getroffen: Er will seinen fünf Kindern nicht nur keine wirtschaftlichen Schulden hinterlassen, sondern auch keinen ökologischen Schaden. „Ich möchte, dass der Planet sagt: Naja, es war nicht schlimm, dass er da war.“ Zu diesem Entschluss ist Gratzel, der seine Geschichte kürzlich auch beim Trierer Waldforum in der Europahalle erzählte, aus drei Gründen gekommen. Wegen seiner Kinder, die viel schlauer seien als er, die von vorneherein ein anders Leben führten. „Die arbeiten nicht so viel wie ich, die haben alle kein Auto, ernähren sich teilweise vegetarisch, sie sind auf eine natürliche Weise nachhaltiger unterwegs als ich“, sagt er. Zweiter Grund war die immer drängendere Berichterstattung über den Klimawandel. Und der dritte Grund hat damit zu tun, dass Gratzel leidenschaftlicher Jäger ist. 99 Prozent seines Hobbys bestehe daraus, die Natur zu beobachten. Und da sei ihm klar geworden, dass sein Leben und die Natur nicht zusammenpassen. Also schrieb er allerlei Experten an: WWF, Nabu, Greenpeace, das Umweltbundesamt und teilte ihnen mit, dass er nach 50 Jahren großzügigen Lebens voller Konsum und Mobilität den an der Umwelt verursachten Schaden wieder ausgleichen wolle. „Was muss ich tun?“, wollte er wissen, und die Antwort, die er erhielt, habe ihn schockiert und irritiert. Denn sie habe im Tenor gelautet: „Das wissen wir auch nicht“. „Es ist das eine, einen Saustall anzurichten, und das andere, nicht zu wissen, wie man den wieder aufgeräumt bekommt“, findet Gratzel, der nicht aufgab, sondern Wissenschaftler anschrieb, die sich auf Ökobilanzierung spezialisiert hatten. Bei Professor Matthias Finkbeiner von der Technischen Universität (TU) Berlin rannte er offene Türen ein, denn, dass ein Mensch versucht, seine Lebensökobilanz auf 0 zu bringen, sei wissenschaftlich völliges Neuland.

 Neuland, über das selbst New York Times und Washington Times inzwischen berichteten.

Die Aufgabe, die Gratzel nun den Rest seines Lebens beschäftigen wird, gliedert sich in drei Schritte. Erstens: die Ökobilanz seines bisherigen Lebens erfassen. Zweitens: diese für seine „Restlaufzeit“ optimieren. Diese ersten beiden Schritte ist er bereits gegangen. Und drittens: angerichteten Schaden ausgleichen.

Zunächst musste der Familienvater sein gesamtes Leben dokumentieren: wie er heizt, wie viel Energie er verbraucht, wo sein Brot, Fleisch oder Fisch herkommen, wie lange er duscht, wie viel er fährt, wo er Urlaub macht ... Zudem musste er seinen gesamten materiellen Besitz auflisten: jede Socke, jeden Löffel, jedes Handtuch – und auch angeben, aus welchem Material die Dinge sind und wo sie herkommen.  Mit einer Tasse Kaffee bewaffnet habe er morgens um neun angefangen und dachte abends fertig zu sein. Gegen Mittag sei er immer noch mit der zweiten Kommodenschublade beschäftigt gewesen. „Ich hätte ein Sockenmuseum eröffnen können“, sagt der Unternehmer, der sich damals alle drei Jahre komplett neu einkleidete und viele Wochenenden brauchte, um die langen Exceltabellen zu füllen, die die Wissenschaftler schließlich analysierten.

Sie berechneten, wie viel CO2-Ausstoß der Unternehmer in seinen 50 Jahren verursacht hatte, aber auch, wie viel Wasser er verbrauchte oder wie viel Gift seinetwegen in die Umwelt gelangte. Das Ergebnis erschreckte den Aachener, der bis 2017 pro Jahr 26,6 Tonnen CO2 in die Atmosphäre pustete. Bis heute insgesamt 1165 Tonnen. Vergleicht man das mit der gleichen Menge Trockeneis, die auf einen Güterzug geladen wird, so wäre dieser Zug mehr als einen Kilometer lang. Die Wissenschaftler kamen zu dem Schluss: Gratzel alleine beanspruche Ressourcen, die eigentlich für 13 Menschen ausreichen müssten und ist schuld daran, dass 2738 Jahre menschliches Leben nicht stattfinden können. „Und niemand ist jemals auf mich zugekommen und hat gesagt: Das kannst du doch nicht machen! Du ruinierst diesen Planeten.“

Die Optimierung: Inzwischen hat der Aachener seinen CO2-Ausstoß auf 7,8 Tonnen im Jahr reduziert. Zum Vergleich – der Durchschnittsdeutsche verbraucht 11,6 Tonnen. Seit 17 Monaten ist er gar nicht mehr geflogen. Er fährt auch 90 Prozent weniger Auto – und wenn, dann mit einem Hybridwagen, der mit Ökostrom betankt wird. Da sein Haus denkmalgeschützt ist, konnte er zwar weder eine Solaranlage aufs Dach setzen noch nach Erdwärme bohren, doch er tauschte die Fenster aus und optimierte die Heizung.

Auch isst er viel weniger Fleisch als zuvor. Und wenn, dann nur von Tieren, die er selbst erlegt hat. „Wildschweine gelten ökologisch als neutral“, sagt er. Auch sein Jagdhund, der für immerhin drei Prozent von Gratzels Umweltwirkungen verantwortlich war, wird nur noch mit Wild gefüttert. Milchprodukte sind nahezu vom Speiseplan verschwunden, dafür isst Gratzel viel regionales Obst und Gemüse.

Einen Teil seines üppigen Kleidervorrats hat er gespendet und wenn er doch mal was Neues braucht, dann kauft er es aus nachhaltiger Produktion. „Mein Konsum ist heute nur noch fünf Prozent dessen, was ich vor fünf Jahren betrieben habe.“ Statt Urlaub in Übersee gibt es nun Entspannung in der Eifel, an der Mosel oder wenn er es wild treibe, mal in den Alpen. Und dennoch kommen Nabu und WWF in ihrer Analyse seines Lebensstils zu folgendem Schluss: Was er tut, reicht nicht aus, „um die Zielwerte für eine Begrenzung des Klimawandels auf unter zwei Grad Celsius einzuhalten.“ Weitere Verhaltens- und Konsumänderungen seien nötig.

Phase 3: Bis Gratzel stirbt, wird er bei 1400 Tonnen CO2-Emissionen angekommen sein. Hinzu kommen sieben Tonnen Phosphat, die seinetwegen ins Wasser gelangt sind. Was kann er tun, um diese wieder aus der Umwelt herauszunehmen? Eine Frage, auf die es bisher keine Antwort gibt. Die TU Berlin habe gerade, auch mit finanzieller Unterstützung Gratzels, zwei Wissenschaftler eingestellt, um ein Konzept zu entwickeln.

Aufforstung sei keine Lösung. Wenn alle Deutschen ihren CO2-Ausstoß kompensieren wollten, indem sie Bäume pflanzen, „bräuchten wir eine Fläche, die 25 mal so groß ist wie Deutschland“. Allein Gratzel bräuchte einen Quadratkilometer Land.

„Das kostet mich mehr, als mein Vermögen hergibt.“ Und selbst, wenn es gelänge, würde es bedeuten, dass alle nachfolgenden Generationen nicht an Gratzels Wald rühren dürften, um seine Ökobilanz nicht doch wieder zu ruinieren. Ein solcher Flächenverbrauch wäre kein kluger Ansatz, findet er. Technische Verfahren, um CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen, werden derzeit erforscht, sind allerdings noch nicht ausgereift.

„Ich finde es erschütternd: Wir leben alle so, wie wir leben, und wir haben unglaublichen Fortschritt erreicht, aber wir haben keine Idee, wie wir den Schaden an unseren Lebensgrundlagen wieder gutmachen sollen.“ Er werde alles dafür tun, sein Projekt zu Ende zu bringen, denn irgendwer müsse ja mal beweisen, dass es möglich ist. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich der Erste bin, der das tut. Aber das muss doch hinzukriegen sein.“

Für sich persönlich sieht der Unternehmer das Projekt als enormen Gewinn. Weil es ihm deutlich gemacht habe, „dass im Leben nicht die Quantität das Entscheidende ist, sondern die Qualität“. Größere Häuser, größere Autos, mehr Geld – Quantität war für ihn Messgröße des Lebenserfolges. Nun hat er gemerkt, dass er mit weniger leichter und zufriedener durchs Leben gehen kann. Er habe sich von unnützem Ballast befreit. Man solle sich viel öfter fragen: „Brauche ich das wirklich? Macht es mich glücklicher und mein Leben besser?“ Dann werde die Antwort ganz oft lauten: nein.

Die entscheidenden Akteure, bei der Frage, ob es der Menschheit gelingen werde, zu überleben, „sind nicht die Politik, nicht die Unternehmen, sondern Sie und ich. Jedes Mal, wenn Sie im Supermarkt unterwegs sind, stimmen Sie ab“, sagt er – und ermutigt jeden Einzelnen zu mehr Klimaschutz.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort