In Berlin dreht sich das Kandidatenkarussell

Die Schockstarre, die der Rücktritt des Bundespräsidenten auf der politischen Bühne ausgelöst hat, weicht dem konzentrierten Blick nach vorn: In Berlin wird jetzt nach einem Nachfolger für Horst Köhler gesucht. Nur noch wenige Kandidaten sind in der engeren Wahl.

Berlin. Es sind vor allem drei Orte, an denen in Berlin die Folgen des Paukenschlags von Horst Köhler verarbeitet werden müssen. Der zurückgetretene Bundespräsident schaut noch einmal im Schloss Bellevue vorbei. Zugleich trifft sich gut einen Kilometer entfernt im Kanzleramt die Koalitionsspitze von Union und FDP zur Krisensitzung. Und im Reichstag sitzt Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) in seinem Büro, um festzulegen, wann der Nachfolger von Horst Köhler gewählt werden wird.

Abschied mit Tränen



Trist und trüb ist es an diesem frühen Berliner Morgen, als die kleine Wagenkolonne vom Spreeweg aus auf das Gelände von Schloss Bellevue einfährt. In einer der dunklen Limousinen sitzt Horst Köhler. Er ist an den Ort zurückgekehrt, an dem er, der Empfindsame, 24 Stunden zuvor aus dem Amt geflüchtet ist. Es sind persönliche, fast private Motive für diese Rückkehr. Köhler schart noch einmal seine engsten Mitarbeiter im Präsidialamt um sich, "eine Handvoll", heißt es. Das mediale Echo auf den Rücktritt hat alle entsetzt. Es wird ein trauriges Treffen, ein Abschied mit Tränen, während einen Kilometer entfernt die Politik versucht, sich aus der von Köhler verursachten Schockstarre zu lösen.

Im Reichstag muss Norbert Lammert gemäß der Verfassung handeln. Er muss die Bundesversammlung in 30 Tagen einberufen. Lammert kontaktiert den Bundesratspräsidenten, Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD), der die Amtsgeschäfte von Köhler übernommen hat; er hat mit Kanzlerin Merkel sowie den Partei- und Fraktionschefs gesprochen. Dabei wird schnell deutlich, dass die Frist des Grundgesetzes möglichst voll ausgeschöpft werden soll. Aus organisatorischen Gründen, aber auch, um bei der Kandidatensuche den Druck auf die Parteien nicht noch mehr zu erhöhen. Gegen 12 Uhr tritt Lammert im Reichstag vor die Presse. Auffallend ist seine Gelassenheit, als er verkündet, dass die Bundesversammlung am Mittwoch, 30. Juni, ein neues Staatsoberhaupt wählen wird. Seit der Bundestagswahl verfügen Union und FDP in dem Gremium über eine satte Mehrheit.

Man habe extra darauf geachtet, flachst Lammert, dass an dem Tag kein Spiel der Fußball-WM stattfindet. "Vollzähliges Erscheinen" sei also garantiert. Lammert wirkt ungewöhnlich entspannt, vielleicht, weil er selbst für die Köhler-Nachfolge im Gespräch ist. Zutrauen würde er sich das Amt - und es allemal auch wollen, so sein Umfeld. Lammert gilt als Kandidat, "der es auch für die Opposition schwermacht, sich in die Büsche zu schlagen", bestätigen hochrangige CDU-Kreise unserer Zeitung. Bei der Bewältigung der Euro-Krise habe er überzeugend agiert. Das wiederum müsse als ein "starkes Signal" gewertet werden.

Es sind viele Namen, die jetzt für die Nachfolge Köhlers auf dem Markt sind, aber nur noch ganz wenige sind in der engeren Wahl. Neben Lammert ist dies vor allem Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, die wegen ihrer familienpolitischen Erfolge die große Konsenskandidatin sein könnte. Auf Nachfrage reagiert sie mit einer Geste: Sie legt sich den Finger vor den Mund zum Zeichen des Schweigens. Wer sich jetzt zu stark aus der Deckung wagt, vermindert seine Chancen.

Zugleich wird in Berlin auch der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff genannt, der aus Hannover weg will. Auch bei der Opposition wird überlegt, ob man mit einem eigenen Bewerber ins Rennen gehen soll (siehe unten) - vielleicht erneut mit Gesine Schwan?

Im Kanzleramt kommen gegen neun Uhr Angela Merkel, FDP-Chef Guido Westerwelle und CSU-Chef Horst Seehofer zusammen, um die Lage neu zu sortieren. Die Fragen liegen auf der Hand: Soll eine Frau folgen, wo doch Merkel schon Kanzlerin ist? Oder doch besser ein Mann? Protestantisch oder katholisch, und aus welchem Landstrich? Mit wem lässt sich ein schwarz-gelber Neustart verbinden, vielleicht sogar ein parteiübergreifendes Signal senden? Und wer ist allen drei Vorsitzenden genehm? Die Auswahl wird auch zum internen Machtspiel. Die Erinnerung an 2004 wird wach, als CSU-Mann Edmund Stoiber Annette Schavan und Westerwelle Schäuble verhindert haben sollen - am Ende wurde es Horst Köhler. "Es wird aber nicht erneut ein Quereinsteiger werden", heißt es in Regierungskreisen.

Zu Horst Köhler: Mensch-Kolumne Kultur Seite 23

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort