Daniel Masutt aus Greimerath Von der Tapferkeit eines Schmetterlingskindes

Greimerath · Der 20-jährige Daniel Masutt und seine Mutter meistern ein schweres Leben mit einer seltenen Krankheit. Ein Besuch in Greimerath.

 Daniel Masutt aus Greimerath hat die Schmetterlingskrankheit. Nur wenige Dinge kann der 20-Jährige, der auf den Rollstuhl angewiesen ist, ohne Hilfe tun. Sein Hobby Angeln gehört dazu.

Daniel Masutt aus Greimerath hat die Schmetterlingskrankheit. Nur wenige Dinge kann der 20-Jährige, der auf den Rollstuhl angewiesen ist, ohne Hilfe tun. Sein Hobby Angeln gehört dazu.

Foto: Iris Maria Maurer

Die Besucherin denkt nicht nach, sie nimmt sie einfach, diese Hand. Sie ist rau und gekrümmt, sie ist ungewöhnlich klein, sie fühlt sich total fremd an. Daniel (20) streckt sie zur Begrüßung so schnell und selbstverständlich aus, dass jede Schrecksekunde ein menschlicher Abgrund wäre. Stattdessen weicht sofort jede Beklommenheit, denn man steckt schon mittendrin in Daniels Normalität. Auch wenn hier gar nichts normal ist, weder sein bandagierter Körper noch die durch Verwachsungen geknickten Beine, die ihn nur mühsam von der Couch bis zum Esstisch tragen. Dort zerlegt Daniel in einer zeitlupenartigen Prozedur ein Blätterteig-Teilchen, nur Krümel wandern in den Mund. Denn es gilt, die auf zwölf Millimeter verengte Speiseröhre zu schonen; einmal im Jahr wird sie in der Klinik geweitet. Daniel trägt eine PEG-Sonde, um flüssige Nahrung zuzuführen. Die permanente Wundheilung erfordert bis zu 3000 Kilokalorien am Tag. „Mein Körper ist ein Brennofen“, sagt er. Seine Mutter wird ihm während des Gesprächs Blut aus dem Augenwinkel wischen und Morphin und Novalgin über die Sonde in den Magen spritzen. Man nimmt es kaum mehr wahr. So ist das eben, wenn man ein Schmetterlingskind besucht.

Daniel hat seit seiner Geburt einen grausamen Gefährten mit einem sanften Namen – Schmetterlingskrankheit. Ein zynischer Vergleich, wenn Menschenhaut so leicht verletzlich ist wie Schmetterlingsflügel, wenn sie durch kleinste Reibung zerreißt und den Körper in eine einzige flammende, pochende Wunde verwandelt. Schmerzen sind das Grundrauschen in Daniels Leben, da hat es wenig Sinn, großes Aufheben davon zu machen. Daniel berichtet außerordentlich offen, ja cool über seinen Alltag im „Kaff“, wie er es nennt: Greimerath im Hochwald, Kreis Trier-Saarburg.

Auf der Rückfahrt nach dem Besuch bei Daniel werden sich vor allem die Leerstellen der Unterhaltung nach oben fräsen. All das, was Daniel nicht erzählt hat, und wonach man gar nicht erst fragte. Wie er sich fühlt, wenn Menschen Berührungen ausweichen, weil sie die offenen Wunden für ansteckend halten. Man weiß auch nicht, ob Daniel, dessen verschmitzte Art das Gespräch so mühelos, so amüsant erscheinen lässt, nicht doch mal traurig ist, und warum er keinen Vorwurf übrig hat für die beiden Kumpels, die ihn seit seiner Kindheit begleiten, und jetzt, da sie dank Führerschein die Welt erobern, immer weniger Zeit für ihn haben. Ist doch klar, sagt Daniel in dem ihm eigenen lapidaren Stil, sein Rollstuhl passe halt nicht ins Auto. Illusionen, Träume? Die Krankheit hat aus einem jungen Mann einen altklugen Realisten gemacht. Daran schluckt man vielleicht am schwersten.

Schmetterlingskinder sterben früh, Daniel weiß es. Doch neue Therapien, wie sie in der Schweiz oder Österreich ausprobiert werden, wecken kaum Interesse bei ihm. Internet-Recherchen zur eigenen Krankheit meidet er: „Ich muss mir nicht auch noch das Elend anderer angucken.“ Hoffnung auf Heilung ist also kein Thema, das Sterben allerdings auch nicht. „Ich habe mit dem guten Mann mit der Sense einmal im Leben Kontakt gehabt, das reicht mir“, sagt Daniel. Das war 2017, als sein Vater tödlich verunglückte. Damals lebten er und seine Mutter Marliese Masutt (54) schon allein, waren aus Zerf weggezogen. Die Ehe ging nicht nur wegen Daniels Krankheit kaputt, aber auch. Seitdem kämpfen die Masutts mit finanziellen Problemen. Daniels Mutter lebt von Witwenrente, bekommt Wohn- und Pflegegeld – Daniel hat Pflegegrad vier –, hat eine Putzstelle. Daniel bezieht Halbwaisenrente. Auf dem Tisch türmen sich Anträge, Widersprüche, Rechnungen, der übliche bürokratische Wahnsinn. Die Kasse erkennt lediglich eine Hauterkrankung an, während die Masutts mit einer multikomplexen Behandlungssituation klar kommen müssen. „Die Medizin tut alles, um Kranke möglichst lange überleben zu lassen. Aber dann will keiner dafür bezahlen, und es gibt auch niemanden, der sie pflegt“, sagt Mutter Marliese. Und mehrfach: „Wir werden allein gelassen“.

Spezialisierte Therapeuten und Ärzte sind kometenweit entfernt. Aber Daniels Mutter züchtet keinen Frust, das kann sie sich gar nicht leisten. Daniel fordert all ihre Kraft. Rund drei Stunden dauert die Morgentoilette, abends muss sie nochmal etwa eine Stunde ran. Marliese Masutt sticht Blasen auf, damit Blut und Wundsekret abfließen, sie wäscht und salbt ihren Sohn, legt Verbände an, die etwa 75 Prozent seines Körpers bedecken. Jede Minute schmerzt, nicht nur ihn, auch sie. Nach 20 Jahren Pflege leidet sie unter Arthrose in den Knien und in der Hüfte. Darum kümmern kann sie sich nicht. Was, wenn sie mal nicht mehr kann? „Die Zukunftsängste sitzen einem im Genick“, hört man. Zweimal die Woche hat Marliese zumindest Unterstützung, 10,5 Stunden Behandlungspflege gewährt die Kasse, doch Daniel meint: „Meine Mutter kann das von allen am besten.“ Denn Verbände anlegen und Verbände anlegen, mit denen Daniel sich wohlfühlt, das sind zwei verschiedene Sachen. Deshalb zieht es Daniel auch nicht in Hospize, denn dort delegiert seine Mutter die Pflege. Doch die Entlastung, die beide im Kinder- und Jugendhospiz Balthasar in Olpe erlebten, erwies sich als fragil: „Wenn es mir nicht gut ging mit der fremden Pflege, konnte sie sich nicht entspannen.“ Trotzdem sind die beiden Feuer und Flamme für das Kinderhospiz, das in Homburg entsteht, nahmen an der Denkwerkstatt teil, die bei Betroffenen Ideen sammelte für Bau und Konzeption.

Momentan hat sich Daniels Zustand sehr verschlechtert. Er könne ganz schön stur und aufbrausend sein, meint Marliese. Er selbst berichtet von Wutausbrüchen. Beispielsweise wenn eine Pflegekraft „rumjammert“, weil sie ihm während des Badens zwangsläufig wehtut. Der Schorf muss nun mal runter von den Wunden, die so furchterregend aussehen wie Verbrennungen. Eine Pflegekraft ist schon mal umgekippt. Bis zu fünf Stunden dauert das Baden, allein das Abnehmen der Verbände nimmt 90 Minuten in Anspruch – Hochleistungs-,Präzisionsarbeit. „Im letzten Dreivierteljahr mussten wir neun Kräfte immer wieder neu anlernen“, erzählt Marliese. Selbst Hilfen werden so zur Belastung.

Zudem kommt Daniel auch mit ehrenamtlich Tätigen nicht wirklich gut klar. Oft sind es Rentner, haben also das falsche Alter, oder stecken, wie ein Banker aus Luxemburg, selbst in einer Midlife-Crisis. „Sowas geht mir auf den Keks“, sagt Daniel. Dann ist er schon lieber mit sich und seinen Hobbys allein. Computerspiele seien „das einzige, was ich noch selbstständig machen kann“. Angeln aber ebenfalls noch, und das Taschenmesser-Sammeln sowieso, sogar das Messer-Selbermachen. „Das Handwerkliche liegt mir. Ohne die Krankheit wäre ich Schreiner geworden oder am Bau“, sagt Daniel. Stattdessen sitzt er seit Dezember 2017 arbeitslos zu Hause. Die Ausbildung zum Systemplaner ging schief, weil der Chef nicht akzeptieren wollte, dass er nur sechs Stunden täglich arbeiten darf und kann. So sieht generell die Kehrseite der Integration aus: Menschen vergessen ganz und gar, dass Daniel eben doch nicht alles genau so kann wie sie. Daniel hat es überraschenderweise geschafft, seine Kindergarten- und Schulzeit in Regelschulen zu verbringen, in Zerf, immer begleitet von Integrationshelfern. Alles ging gut bis zur siebten Klasse, berichtet er, dann wuchsen Eifersucht und Neid der Mitschüler auf einen wie ihn, der immer eine Extrawurst bekam, öfter raus durfte aus dem Unterricht, mehr Zeit bei Klassenarbeiten hatte. „Ich wünschte, ich hätte deren Probleme gehabt“, sagt er. Und heute? „Man wird irgendwann vergessen“, sagt er. Sitzt da, zart wie ein Kind, gebeugt wie ein Greis – souverän wie Daniel, den Held zu nennen nicht schwerfällt.

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