"Irrsinn essen Seele auf" oder Neues aus dem Büroalltag

Fast zu unglaublich, um wahr zu sein: Der Autor, Karrierecoach und TV-Kolumnist Martin Wehrle hat Erfahrungen von Arbeitnehmern aus ihrem Büroalltag zusammengefasst. So entstand die Fortsetzung seines Buches "Ich arbeite in einem Irrenhaus" mit dem kleinen Zusatz: immer noch.

 Foto: istock/Kemter

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Als sein Chef ihn fragte, ob er ihm aus einer schwierigen Situation helfen könne, antwortete der Betriebswirt Julian Grimm* sofort: "Klar, worum geht es denn?"

Ein Fehler, wie sich bald herausstellen sollte: Der Chef, ein notorischer Raser, wollte nämlich, dass Grimm drohende Punkte in der Flensburger Verkehrssünderdatei für ihn übernehmen solle. Der Gefragte hielt das Anliegen zunächst für einen Scherz.

Der Chef scherzte nicht. Er hatte schon einige Kollegen im Büro erfolgreich um diese Gefälligkeit gebeten. "Aber wie soll das gehen?", fragte Julian Grimm ungläubig. "Ganz einfach", entgegnete der Chef, in dieser Frage erfahren, "ich gebe auf meinem Anhörungsbogen an, dass Sie der Fahrer waren." Gesagt, getan. Die Punkte für die Geschwindigkeitsüberschreitung des Chefs landeten auf dem Konto des Angestellten, weil der nach eigener Aussage die dadurch gewonnenen Bonus-Punkte beim Vorgesetzten nicht gleich wieder verlieren wollte.

Nur eine von vielen unglaublichen Geschichten aus dem deutschen Büroalltag, gesammelt, sehr unterhaltsam aufgeschrieben und eingeordnet von Autor und Karrierecoach Martin Wehrle.

Punktlandung in der Arbeitnehmerseele?



Nur ein Beispiel, bei dem jeder, der es liest, im stillen Kämmerlein diesen dreisten Chef mit seinem vergleichen und sich selbst fragen kann, ob er mehr Rückgrat bewiesen und seinem Vorgesetzten eine hochkantige Abfuhr erteilt hätte - ohne Furcht vor den Folgen.

Auch ohne offene Auseinandersetzung im Betrieb ist die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes unter den Bundesbürgern groß: Laut einer aktuellen Umfrage des Forsa-Instituts fürchten 42 Prozent der Deutschen, ihren Job zu verlieren. Anfang des Jahres seien sie noch wesentlich optimistischer gewesen, berichtet das Magazin Stern. Schuld an den größeren Sorgen seien die anhaltende Euro-Rettung, die Rentendebatte und die schlechteren Konjunkturaussichten.

Martin Wehrle konnte für sein neues Buch "Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus" auf mehr als 2000 Schilderungen aus dem deutschen Büroalltag zurückgreifen: So viele Mails trudelten bei ihm nach dem Erscheinen seines ersten Irrenhaus-Buches im vergangenen Jahr ein. "Ist vielleicht manchmal übertrieben dargestellt, aber so isses wirklich oft", sagte eine junge Frau, Sachbearbeiterin bei einem großen deutschen Autohersteller, die Wehrles erstes Irrenhaus-Buch begeistert gelesen hat.

Offenbar eine Punktlandung in der deutschen Arbeitnehmerseele. Der Erfolg seines Buchs, das mehr als 20-mal neu aufgelegt wurde und sich 70 Wochen in der Spiegel-Bestsellerliste hielt, belegt, dass sich die Mitarbeiter durchaus über die Vorgänge in ihren Firmen Gedanken machen, und angesichts dessen, was sie oft schlucken müssen, sich einmal Luft machen möchten. Dabei stellen sie bei allen Meldungen über den Erfolg des deutschen Wirtschaftsstandorts und dem Ziel, allen Konjunkturabschwächungen und Exportrückgängen zu trotzen, den Chefs und Unternehmen kein gutes Zeugnis aus.

Die Palette dessen, was da auf der Seele brennt und sich unter deutschen Firmendächern abspielt, reicht von amüsant über peinlich bis tragisch. Wie das Beispiel von Henry Wolter*, Reprofotograf, zeigt: Sein Chef gab ihm unlösbare Aufgaben, für ihn war in der Kantine kein Platz mehr - kurzum, er fühlte sich in seiner Firma gemobbt. Da glich es einem kleinen Wunder, als der Bereichsleiter eines Wettbewerbers anrief und sagte, bei ihm sei eine Planstelle frei. "Das war mein Ti cket aus der Hölle!", dachte er, wurde aber von der neuen Firma in der Probezeit entlassen. Er passe nicht zum Unternehmen, hieß es. Was sich wie die Rettung anließ, entpuppte sich zu einer ausgebufften List. Henry Wolters entdeckte später im Internet, dass die beiden Chefs einst Schulkameraden waren. So war die alte Firma ihn nach 15 Arbeitsjahren ohne Probleme und Abfindung los.

Macht ist verführerisch



Die Geschichten der Arbeitnehmer reichert Martin Wehrle mit bekanntgewordenen Beispielen aus Konzernen an: Etwa der Bahn, die private Daten von 173 000 Mitarbeitern ausgeschnüffelt hat. Dem Textil-Discounter Kik, der mehr als 49 000 Anfragen bei der Auskunfts-Datei Creditreform über die Finanzen seiner Mitarbeiter stellte. Oder der Versicherung Hamburg Mannheimer, Teil der Ergo-Gruppe, die als Leistungsanreiz und Belohnung für einige Vertreter die Spendierhosen angezogen und sie zu einer schlüpfrigen Party eingeladen hat.

Belohnung durch Sex orgien, Mobbing, Willkür, Kontrolle, Abzocke und viel mehr soll von Chefs geduldet, von Chefs veranlasst sein? An dieser Stelle ist es höchste Zeit auch eine Lanze für sie zu brechen: Natürlich gibt es nicht nur schlechte. Natürlich lieben es die Indianer, den Häuptling durch den Kakao zu ziehen - oft auch ungerechtfertigt.

Aber Myriam Bechthold, Professorin der Frankfurt School of Finance, sucht im Epilog des Irrenhausbuchs nach der Gemeinsamkeit der Chefs, die über Organisationen und Branchen hinweg von ihren Mitarbeitern unabhängig voneinander ähnlich kritisch beurteilt werden. Ein verbindendes Merkmal von Führungspositionen sei Macht. "Mächtige Personen fühlen sich offensichtlich berechtigt, Grenzen zu überschreiten, die sie anderen auferlegen, und sie nehmen emotional weniger Anteil, wenn sie unter Druck geraten (...)", schreibt sie. "Die Forschung zeigt, dass es offensichtlich nicht schwer ist, sich von seiner Macht verführen zu lassen." Dabei habe das Fördern der Mitarbeiterzufriedenheit nichts mit Gefühlsduselei, aber mit unternehmerischem Erfolg zu tun, heißt es weiter.

Die ständige Erreichbarkeit und Überstunden machen immer mehr Arbeitnehmer in Deutschland krank. Diese seit Jahren anhaltende Tendenz wurde durch eine im August veröffentlichte Krankenkassen-Studie wieder bestätigt. Millionen Bundesbürger kennen keine klaren Grenzen zwischen Job und Privatleben - viele fühlen sich deshalb niedergeschlagen und unausgeglichen.

Die Zahl der psychischen Erkrankungen stieg demnach seit 1994 um 120 Prozent. Arbeitsunfähigkeit wegen psychischer Leiden ist nach dem Fehlzeiten-Report 2012 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (Wido) in den vergangenen Jahren nicht zuletzt wegen dieser Belastungen in die Höhe geschnellt. So seien 2011 rund 130 000 Menschen wegen Burn-outs krankgeschrieben gewesen - die Krankheits tage hätten sich binnen sieben Jahren auf 2,7 Millionen verelffacht.

´Überforderte Mitarbeiter = ökonomischer Schaden? Zufriedene Mitarbieter = mehr Erfolg? "Mangelnde Unternehmermoral gilt als Hauptgrund, warum die durchschnittliche Lebens erwartung einer Firma bei 12,5 Jahren liegt", schreibt Martin Wehrle. Für ihn haben erfolgreiche Firmen einen Wertekompass. Vielen Managern sei das Unternehmen egal, sie sähen es nur als einen Zwischenstopp auf ihrem Weg nach oben an.

Demgegenüber führt er die sogenannten Hidden Champions an. Die erfolgreichen "Mittelständler mit einer soliden Unternehmenskultur" fielen durch eine andere Zahl auf. "Bei ihnen verweilt der durchschnittliche Unternehmenslenker 20 Jahre."mar/dpa

*Die Namen im Buch sind geändert und diese Beispiele daraus gekürzt zusammengefasst.

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