Rechnung mit Unbekannten

Sind es Hunderttausende? Oder gar Millionen? An diesem Wochenende fallen die wichtigsten Außengrenzen des deutschen Arbeitsmarktes. Und die Ökonomen überbieten sich mit Zahlenspielen über einen Massenansturm von Arbeitssuchenden aus Mittel- und Osteuropa.

Wie viele Polen, Esten oder Slowaken tatsächlich ihre Heimat in Richtung Deutschland verlassen werden, lässt sich jedoch kaum vorhersagen. Klar ist nur, dass viele Bundesbürger sorgenvoll in die Zukunft blicken. Zwei Drittel sind der Meinung, die Bundesregierung habe kaum etwas getan, um mögliche Verwerfungen zu unterbinden. Die Wahrheit ist differenzierter: Wer über eine gute berufliche Qualifikation verfügt, muss sich um die neue Arbeitsfreiheit nicht scheren. Für viele Niedriglöhner könnte es dagegen schwieriger werden, ihr ohnehin schon karges Auskommen zu sichern.
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Länder wie Großbritannien und Irland bereits vor sieben Jahren ihre Schlagbäume für Arbeitsmigranten aus den neuen EU-Ländern öffneten. Und viele gut ausgebildete Leute kamen. Dass sie sich jetzt nach Deutschland umorientieren, ist kaum vorstellbar. Dabei wäre ein solcher Schritt wünschenswert. Denn zahlreiche deutsche Betriebe klagen über Fachkräftemangel. Aber jetzt ist es zu spät. Gerade bei unseren unmittelbaren östlichen Nachbarn geht es wirtschaftlich stark aufwärts. Das macht das Daheimbleiben attraktiver. Bleiben die schlecht Qualifizierten. Davon hat Deutschland aber schon viel zu viele. Bekämen sie in größerer Zahl Konkurrenz aus den neuen EU-Staaten, würde das ihre Lage noch verschärfen.
Sicher, mit den beschlossenen Mindestlöhnen für einige Problembranchen rang sich die Bundesregierung zur Vorbeugung mancher Auswüchse durch. Für einen deutschen Beschäftigten gelten diese Lohnuntergrenzen ebenso wie für einen polnischen oder lettischen Arbeitnehmer, der sich hier verdingt. Insofern trügt auch der Eindruck der meisten Deutschen, die Regierung hätte praktisch nichts zu ihrem Schutz getan. Zu fragen ist allerdings, ob sie genug getan hat, um den weit verbreiteten Ängsten zu begegnen. Denn in Niedrigstlohn-Branchen wie dem Gastgewerbe, in Schlachtbetrieben oder im Einzelhandel läuft die Praxis separater Mindestlöhne ins Leere, weil sich die Tarifpartner entweder nicht darauf einigen können, oder gar nicht erst vorhanden sind.
Als Großbritannien 2004 seinen Arbeitsmarkt öffnete, verfügte das Land bereits über einen flächendeckenden Mindestlohn. Heute haben nur noch zwei der 27 EU-Staaten offiziell keine: Zypern und Deutschland. Vielleicht führt ja die Praxis der neuen Arbeitnehmerfreizügigkeit zu einem Sinneswandel in Berlin.
nachrichten.red@volksfreund.de

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