50 Jahre Ton Steine Scherben Das Erbe der Scherben

Trier/Saarburg · Vor einem halben Jahrhundert wurde Ton Steine Scherben gegründet – gleich der erste Auftritt der Band entfachte Feuer. Am 14. August spielen Ex-Scherben-Musiker zum Jubiläum in Saarburg.

 Die langjährigen „Scherben“-Mitglieder Kai Sichtermann (links) und Funky Götzner (rechts) mit Sänger und Gitarrist Gymmick.

Die langjährigen „Scherben“-Mitglieder Kai Sichtermann (links) und Funky Götzner (rechts) mit Sänger und Gitarrist Gymmick.

Foto: Martin Fuerbringer

6. September 1970: Das Love-and-Peace-Festival auf der Ostseeinsel Fehmarn kann seinem Namen nicht so ganz herzchenmäßig gerecht werden. In Erinnerung geblieben ist das vermeintliche „deutsche Woodstock“ vor allem, weil Jimi Hendrix dort seinen letzten Auftritt hatte, er starb ein paar Tage später. Aber es stand für mehr: für chaotische Organisation, heftiges Unwetter, flüchtende Veranstalter, frustrierte Fans, unbezahlte Helfer – und für ein loderndes Finale des Fiaskos am Sonntagabend, das schon fast nach Hollywood klingt: Eine blutjunge Berliner Band namens „Rote Steine“ spielt den Song „Macht kaputt, was euch kaputt macht.“ Die Botschaft kommt bei einigen im Publikum sehr präzise an: Das Veranstalterzelt geht während des Stücks in Flammen auf, die Organisatoren waren längst mit der Tageskasse geflohen. Es ist der erste Auftritt der Band, die sich kurz darauf in „Ton Steine Scherben“ umbenennt. Und Geschichte schreiben wird.

Das ist ein halbes Jahrhundert her – und das Band-Jubiläum sollte im August und September 2020 groß in Berlin gefeiert werden: Mit einem Festival, Diskussionsrunden, Theater, Lesungen, Bootstouren und mehr. Höhepunkt: Die Umbenennung des Heinrichplatzes in Kreuzberg in Rio-Reiser-Platz, zu Ehren des 1996 gestorbenen Sängers der Scherben, der in diesem Jahr seinen 70. gefeiert hätte. Die Jubiläumswoche in Berlin wurde coronabedingt auf Juni 2021 verschoben. Aber schon am 14. August, kann man sich beim Open Air in Saarburg davon überzeugen, dass Scherben-Songs auch heute noch aktuell sind.

Am Tag, als Rio Reiser 70 Jahre geworden wäre, spielte Funky K. Götzner auf dem Friedhof. Es war nur ein kleines Konzert in der Kapelle, das Fernsehen war da. Rio, das ist immer noch eine große Nummer, der „König von Deutschland“. Auch wenn ihm einige alte Fans seine Soloerfolge in den 80ern eher übel nahmen. Ausverkauf, riefen sie.

„Ich stand an seinem Grab – und war eigentlich nur sehr dankbar. Für all das, was er gemacht und uns hinterlassen hat“, sagt Funky Götzner: „Da war nur Dankbarkeit und Respekt.“ Ihn hatte es in den frühen 70ern aus München nach Berlin gelockt. Die Scherben waren da mit Stücken wie „Keine Macht für Niemand“, „Rauch-Haus-Song“ oder „Wir streiken“ längst verlässliche Soundtrack-Lieferanten der linken Szene. Auch wenn Rio Reiser, bürgerlich Ralph Möbius, schon früh bewies, dass er nicht nur politisch, sondern auch poetisch sein konnte.

Berlin wurde der Band irgendwann zu viel. Götzner, Rio Reiser, Gitarrist R.P.S. Lanrue und Kollegen zog es auf einen Hof ins nordfriesische Fresenhagen. Ein Kaff, so winzig, dass es keine Straßennamen brauchte. Der Gegenentwurf zur damals noch geteilten Metropole. „Wir hatten Berlin verlassen, weil wir im Ruf standen, kapitalistisch zu sein. Es gab die wildesten Gerüchte“, erinnert sich Götzner im Telefonat mit dem TV im Frühjahr. „Aber es war umgekehrt – wir waren pleite, Strom, Gas, alles wurde uns abgestellt. Die Leute erwarteten, dass wir zu jeder Demo kommen und dort kostenlos spielen. Es gab eine sehr hohe Erwartungshaltung und gleichzeitig waren wir im absoluten Existenzkampf. Das führte dazu, dass wir letztendlich nach Fresenhagen gezogen sind und versucht haben, was Neues zu machen.“ Berlin sei spannend für ihn gewesen, faszinierend. Vorher hatte er in München bei „Embryo“ getrommelt, ebenfalls einer wichtigen deutschen Band.

„Aber die Zeit in Fresenhagen war auch gut. Ich habe fast elf Jahre dort gelebt, viel Theatermusik gemacht, Platten produziert, auch die Touren vorbereitet.“ Anfangs bestand die Kommune aus 15 Leuten. „Aber das lichtete sich nach einer Weile. Es war nicht für alle der richtige Lebensstil. Die Kernband blieb: Rio, Lanrue, Britta (Anm.: Neander, gestorben 2004) und ich. Kai lebte nicht so weit weg in Schleswig.“

Kai – das ist Bassist Kai Sichtermann, Scherben-Gründungsmitglied. Und neben Götzner die treibende Kraft, dass Scherben-Songs auch jetzt noch live zu hören sind: Ohne viel Schnickschnack, in akustischen Versionen. Die Gesangs- und Gitarrenparts übernimmt Songwriter Gymmick. Einige Jahre nach Rio Reisers Tod hatte Götzner auch bei „Neues Glas aus alten Scherben“ mit dem aus Trier stammenden Sänger Michael Kiessling zusammengespielt, der im vergangenen Jahr starb.

„Wir spielen Songs von Rio Reiser, den Scherben und auch ein paar neue Stücke. Die Leute sind sehr froh, dass wir vor die Haustür kommen“, sagt der Schlagzeuger, der bei den akustischen Auftritten mit einem Cajon auskommt. „In Trier wurden wir nach einem Auftritt in Lucky’s Luke auch noch später für eine private Party gebucht.“

In Saarburg wird das Trio, das unter dem etwas sperrigen Namen „Kai & Funky von Ton Steine Scherben mit Gymmick“ unterwegs ist, unter freiem Himmel auf dem Gelände der Kaserne auftreten.

Rio Reiser wird in Gedanken dabei sein. „Rio hat immer für seine Überzeugung gelebt“, sagt Götzner. Auch nach dem Aus von Ton Steine Scherben 1985 und seinem Wechsel als Solokünstler zum Majorlabel CBS (Sony). „Er wollte sich verwirklichen. Die Scherben haben jedes Thema angesprochen, nicht nur politische“.

 Barfuß vor dem Keyboard: Rio Reiser, Frontmann von Ton Steine Scherben, bei einem Solo-Auftritt 1987. Der Sänger („König von Deutschland“,„Junimond“) starb im August 1996 im Alter von 46 Jahren.

Barfuß vor dem Keyboard: Rio Reiser, Frontmann von Ton Steine Scherben, bei einem Solo-Auftritt 1987. Der Sänger („König von Deutschland“,„Junimond“) starb im August 1996 im Alter von 46 Jahren.

Foto: picture alliance / dpa/Thomas Muncke

Für Funky Götzner sind auch viele der politischen Stücke heute noch aktuell: „Die Welt ist ja nicht wirklich besser geworden, einiges ist viel schlimmer geworden – das Klimaproblem kommt ja immer mehr auf uns zu. Und die Vertreibung aus Wohnungen, die es damals schon gab, ist noch schlimmer geworden.“ Sein Scherben-Lieblingssong? Der sei eindeutig „Mein Name ist Mensch“: „Das ist eine tolle Komposition. Ich weiß nicht, wie viele Variationen es davon gibt, aber der Song bleibt immer besonders.“

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