Leserbrief Das „Nie wieder“ sollte nicht nur vorgegeben, sondern auch angewendet werden

Ukraine-Konflikt

Zum Artikel „Holocaust-Gedenken in Pandemie-Zeiten“ (TV vom 28. Januar) und zum Interview mit Ost-West-Experte Winfried Böttcher zur Ukraine-Krise: „Der Friede in Europa ist sehr zerbrechlich“ (TV vom 14. Januar):

Für Inge Auerbacher gab es im Deutschen Bundestag nach ihrer Rede zum Internationalen Holocaust-Gedenktag stehende Ovationen. 77 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz bekunden die Abgeordneten des Deutschen Bundestag und geladene Gäste einmal mehr das „Nie wieder“.

Zugleich ist die Welt alarmiert ob eines drohenden Krieges mitten in Europa. Wieder werfen sich die Akteure gegenseitig vor, einander überfallen zu wollen, mit militärischer Gewalt aufeinander loszugehen. Welch ein Widerspruch zum „Nie wieder“! Wir Deutsche bekunden Bedauern und Reue gegenüber der jüdischen Gemeinschaft. Allzu gerne übersehen wir dabei, dass wir dieses Unrecht nicht aus eigener Kraft beendet haben: Eine Erwähnung der Befreier von Auschwitz, der Roten Armee, wird aus meiner Sicht allzu gerne übergangen – teilweise bewusst unterdrückt. Sollte uns die Erinnerung an die Befreiung von Auschwitz, an das Ende des Vernichtungskriegs gegen Juden, Sinti und Roma, gegen alles „Nicht-Arische“, nicht auch daran erinnern, dass uns auch das russische Volk Vergebung für die 27 Millionen sowjetischen Opfern gewährt? Es gilt längst als eine Selbstverständlichkeit. Wie anders ist zu erklären, dass wir Deutsche Hand in Hand mit unseren „Bündnispartnern“ das über 30 Jahre immer wieder vorgetragene Sicherheitsbedürfnis unseres russischen Nachbarn nicht ernst nehmen, gar ignorieren?

Stehende Ovationen – ich erinnere der Rede Vladimir Putins im Deutschen Bundestag vom 24. September 2001 – sind nur dann auch ehrliche Anerkennung, wenn sie nicht nur im Orbit verhallen: Sie müssen sich an den Taten messen lassen, die ihnen folgen. Wir sollten hinterfragen, ob wir alles tun, ein „Nie wieder“ als Maß nicht nur vorzugeben, sondern es auch anzuwenden. Dies erwarte ich zuvorderst von den Politikern und den Medien. Sehr oft geben ihre Reden und Schriften den Eindruck, man warte geradezu auf die Gelegenheit, „zurückschießen“ zu dürfen, für sich die „weiße Weste“ in Anspruch nehmen zu können, wenn das Militär den Befehl erhält, gegen den propagierten Feind loszuschlagen.

„Nie wieder“ heißt für mich daher auch, alle Feindbilder aufzulösen und das Nein der westlichen Gemeinschaft zu den Sicherheitsbedürfnissen des russischen Volkes auf den Prüfstand zu stellen. Andernfalls laufen wir Gefahr, beim Beobachten des „Splitters im anderen Auge“ das schnelle Wachsen des „Balkens“ im eigenen nicht wahrzunehmen.

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