Interview Warum Deutschland oft nicht barrierefrei ist - Samuel Koch spricht über sein Leben nach dem Unfall

Trier · Schauspieler, Autor, tragischster „Wetten, dass..?“-Kandidat: Samuel Koch hat mit uns über Empathie, seinen Glauben und viele Hindernisse gesprochen.

 Samuel Koch ist festes Ensemblemitglied am Nationaltheater Mannheim.

Samuel Koch ist festes Ensemblemitglied am Nationaltheater Mannheim.

Foto: picture alliance/dpa/Uwe Anspach

Samuel Koch? Ja, das ist der junge Mann, der sich am 4. Dezember 2010 bei „Wetten, dass..?“ live vor einem Millionen-Publikum bei einer riskanten Wette mehrfach das Genick brach. Der 34-Jährige hat seitdem eine bemerkenswerte Karriere hingelegt – als Schauspieler und Bestseller-Autor. Im TV-Interview sagt er, warum der Unfall seinen Glauben nicht dauerhaft erschüttern konnte, welche Rollen er besonders mag und was Deutschland von Afrika lernen kann. Das Interview wurde vor seinem Auftritt bei einer musikalischen Lesung in der Wallfahrtskirche Klausen im Oktober 2021 geführt.

Sie sind für viele Menschen ein Vorbild – weil Sie Mut machen, ohne dass Sie anderen sagen, wie sie mit Schicksalsschlägen umzugehen haben. Weil sie andere inspirieren, nicht belehren. War das schon immer ein Antrieb für Sie?

Samuel Koch: Ich sehe reichlich wenig Vorbildhaftes darin, mit dem Kopf gegen ein Auto zu rennen und sich vier Mal das Genick zu brechen. Da sollte man sich tunlichst kein Vorbild nehmen. Ich tue mich auch schwer mit Ratgeber-Literatur und dieser ganzen Motivations-Mode. Motivieren muss man sich letztlich selbst. Aber Sie haben recht: Ich erzähle davon, was mir geholfen hat und was mich inspiriert hat. Meine Lösungsansätze sind dabei sicher nicht eins zu eins transportierbar für andere Menschen. Aber ich freue mich, wenn man das eine oder andere für sich übernehmen kann.

Sie sind Ensemble-Mitglied am Mannheimer Nationaltheater, standen aber auch oft vor der Kamera: Welche Rolle würden Sie denn gerne mal angeboten bekommen?

Koch: Ich wurde in den letzten Jahren immer wieder überrascht, welche Rollen ich spielen durfte. Klassiker wie Kleists Prinz Friedrich von Homburg, Goethes Faust oder auch der Judas-Monolog über eine Stunde hinweg, das hätte ich nie zu hoffen gewagt. Als Schauspieler liebäugelt man ja mit Figuren und Rollen, die relativ weit vom eigenen Charakter entfernt sind. Also ein Mafiaboss oder aus der Klassik vielleicht ein Heinrich III. – das ist anspruchsvoll und herausfordernd. Gerade im letzten Jahr habe ich in einem Independent-Kinofilm gespielt, der vor Kurzem Premiere in den USA hatte – da war ich ein ganz unangenehmer Bösewicht.

Können Sie sich heute, elf Jahre später, die „Wetten, dass..?“-Szenen noch anschauen – oder kommen da zu viele Gefühle hoch?

Samuel Koch will sich die Unfall-Szene bei „Wetten dass...?“ nicht anschauen

Koch: Ich glaube, ich könnte mir das schon noch anschauen, bin aber nicht unbedingt heiß darauf. Das gehört zu mir mit dazu und zu allem, was ich geleistet und – im konkreten Fall – gefehlleistet habe. Aber die Ereignisse in der Vergangenheit beschäftigen mich weniger.

 Mit Sprungfedern über fahrende Autos springen – bei den Proben schaffte Samuel Koch das problemlos. Bei der Livesendung im Dezember 2010 verletzte er sich schwer. 

Mit Sprungfedern über fahrende Autos springen – bei den Proben schaffte Samuel Koch das problemlos. Bei der Livesendung im Dezember 2010 verletzte er sich schwer. 

Foto: picture alliance / dpa/ZDF/Carmen Sauerbrei

Über acht Millionen Fernseh-Zuschauer haben ihren Unfall damals live miterlebt. Haben Sie es in der Reha eher als Belastung gesehen, dass Ihre Genesung ein großes Medienthema ist – oder war es hilfreich, zu spüren, dass viel Mitgefühl da ist?

Koch: Gute Frage. Ich habe das lange gar nicht so registriert, ich war ja lange auf der Intensivstation, da bekommt man nicht viel von der Außenwelt mit. Im weiteren Verlauf war es beides: Es ist zum Beispiel mal jemand aus einer geschlossenen Anstalt ausgebrochen und kündigte an: ‚Ich befreie Samuel Koch’. Da musste ich eingeschlossen und weggesperrt werden, bis man diese Person gefunden hat. Dann gab es auch verschiedene Stalker und Medien-Unannehmlichkeiten, aber das ist verkraftbar im Vergleich zu dieser kollektiven Anteilnahme, die ich auch erfahren durfte. Mitgefühl, Empathie, Einfühlungvermögen sind das, was ich mir heute in anderen Lebensbereichen viel mehr wünschen würde. Gerade die unsozialen Medien sind ja voll mit Neid, Hass und bösen Worten, die gab es damals auch zuhauf. Wenn dann aber eine Schulklasse gemeinsam ein Lied aufnimmt und man das geschickt bekommt, dann ist das zugleich berührend und ermutigend.

Samuel Koch bemängelt fehlende Empathie bei den Deutschen

Unabhängig davon, ob man gläubig ist oder nicht: „Nächstenliebe“ ist ja erst mal ein sehr guter Lebensansatz – in den sozialen Netzwerken ist das zwischen all den Beleidigungen, der Egozentrik und dem Wir-gegen-die-Anderen nicht gerade der heißeste Trend. Ist das eine gesellschaftliche Entwicklung oder täuscht da nur der Eindruck?

Koch: Der Eindruck täuscht sicher nicht, aber es ist auch keine neue Entwicklung. Das Problem gibt es seit Jahrhunderten und Jahrtausenden. Wenn man sich alte Schriften anschaut – die Veranstaltung in Klausen ist in der Wallfahrtskirche, richtig?...

Ja, genau.

Koch: Dann passt das ja. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte Paulus vor 2000 Jahren an die Gemeinden sinngemäß geschrieben, ‚ein jeder schaue nicht auf das Seine, sondern auf das, was dem anderen dient’. Das hat er ja nicht ohne Grund geschrieben. Es war auch damals ein Missstand, dass sich die Leute egoistisch verhalten haben. Diese Tendenz, für sich selbst das Beste zu suchen, gab es wohl immer in der Menschheitsgeschichte. Aber dennoch habe ich den Eindruck, dass es vielleicht auch gerade in unserem Land vermehrt auftritt – das ist nicht nur ein persönliches Gefühl. Ich stehe viel im Austausch mit Menschen aus dem Ausland. Ich weiß zum Beispiel von Flugbegleitern, dass sie sich gegenseitig möglichst wenige deutsche Passagiere wünschen, weil die im internationalen Kontext die unangenehmsten sind. Weil sie nörgeln, meckern und schon zwei Tomatensäfte wollen, bevor das Flugzeug überhaupt abgehoben ist. Wenn Freunde aus Indien oder den USA zu Besuch sind, werde ich oft gefragt: ‚Was ist denn los, warum sind alle so aggressiv, niemand grüßt, niemand lächelt.’ Das kann man sicher nicht pauschalisieren, aber die Erfahrung machten einige.

Sie auch?

Koch: Ich war viel in der Welt unterwegs. Die Tendenz, viel zu klagen und zu meckern, ohne wirklich zu leiden, das ist bei uns schon sehr verbreitet. Man vergisst gerne, dass wir nicht nur die privilegierteste Generation sind, die je gelebt hat, sondern das auch in einem der privilegiertesten Länder. Es ist schade, wie wenig empathisch viele sind.

Glaube und Religion haben Samuel Koch nach dem Unfall geholfen

Sie sind ein sehr gläubiger Mensch, damals wie heute. Gab es Phasen, in denen der Unfall Ihren Glauben ernsthaft auf die Probe gestellt hat?

Koch: Mit Sicherheit. Vor allem, wenn man die Historie des Unfalls kennt: Ich hatte mich lange gegen die sportliche Aktion gewehrt – aus verschiedenen Gründen: Ich wollte ernstzunehmender Schauspieler werden und dachte, das schadet mir nur, wenn ich mich in einer Unterhaltungsshow zum Affen mache. Ich turnte damals in der zweiten französischen und zweiten deutschen Bundesliga, da sehen es die Trainer auch nicht gerne, wenn die jahrzehntelang angezüchteten Fähigkeiten dafür verkauft werden. Ich habe viel abgewägt, viele gefragt. Ein Hauptgrund war — neben meinen Professoren, die meinten: Mach das ruhig — : Wenn du vor zehn Millionen Menschen was von deinen Idealen weitergeben kansst, dann mache das. Die sportliche Aktion war für mich eher nebensächlich, das habe ich Hunderte Male gemacht. Ich hatte die Chance, mein Wort zu erheben, dem galt meine größte Nervosität. Das Ganze unter eine höhere Führung gestellt zu haben und dann so auf die Nase geflogen zu sein, das hat meinen naiven Glauben à la ‚der liebe Gott beschützt einen schon’ doch ernüchtert. Ich habe viel gehadert, gezweifelt und hintergefragt. Aber nachhaltig kann ich sagen, dass sich mein Glaube intensiviert hat. Er wurde zu einer lebenserhaltenden Maßnahme.

Ihr Vater steuerte damals das Unfall-Auto, hat das die Beziehung zu ihm in irgendeiner Weise verändert? Haben Sie die Schuld mal bei anderen gesucht?

Koch: Nein. Gerade, weil ich das so lange hinterfragt habe und für mich alleine die Entscheidung getroffen habe – trotz schlechtem Bauchgefühl – sehe ich auch die alleinige Verantwortung bei mir. Das war auch eines der ersten Dinge, als ich erwacht bin, da sagte ich zu meinem Vater: ‚Papa, tut mir Leid, dass ich dich da mit reingezogen habe’. Da gab es keinerlei Schuldzuweisung. Der schwierigere Prozess war, mich mit mir selbst zu versöhnen.

Der verunglückte „Wetten dass...?“-Kandidat plädiert für mehr Barrierefreiheit - auch in den Köpfen

Sie setzen sich privat stark für soziale Projekte ein. Was könnte Deutschland oder was könnten die Kommunen für Menschen mit Beeinträchtigung verbessern? Wo sehen Sie den größten Bedarf?

Koch: Da ziehe ich einen internationalen Vergleich. Gerade in Deutschland gibt es rein logistischen Bedarf – wenn ich die Lage etwa mit England, den USA oder der Schweiz vergleiche. Die sind uns um Jahre voraus. In England komme ich mit meinem Elektrorollstuhl uneingeschränkt in jedes Taxi rein. Bei uns warte ich selbst in der Hauptstadt Berlin schon mal über zwei Stunden. Ähnlich ist es bei Einkaufsläden in München — da haben die meisten eine Stufe. Das gibt’s in anderen Ländern nicht mehr. Da gibt es Bedarf, es passiert aber auch viel – wir leben in einem gut aufgestellten Sozialstaat. Aber das andere ist, und das soll nicht zynisch klingen: Wenn ich in Afrika unterwegs bin, ist es dort wesentlich barrierefreier als bei uns. Das liegt nicht an den Strukturen, sondern daran, dass die Leute so hilfsbereit sind: Einfach anpacken und dann geht’s in den Jeep, ins Boot oder in den Dschungel – und alle helfen mit. In Deutschland ist es eher die Regel, wenn ich am Flughafen oder am Bahnhof frage: ‚Können Sie mir kurz an die Kniekehlen greifen, um mich in den anderen Rollstuhl zu setzen?’ – ‚Nein, das steht nicht in meinem Vertrag, da bin ich nicht versichert.’ Oder wenn der TÜV vor barrierefreien Hotels die Rampen abbaut, weil sie nicht den DIN-Auffahrtswinkel erfüllen – dann hat man lieber keine als eine etwas zu steile. Worauf ich hinaus will: Die größte Veränderungs-Sehnsucht ist, dass sich die Barrieren und Blockaden in den Köpfen der Menschen lösen.

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