Nur jeder dritte Trierer hat sich an der OB-Stichwahl beteiligt: "Wer wählen geht, wird fast schon ausgelacht"

Trier · Eine Wahl ist demokratische Pflicht, eine Lüge oder inhaltsleer: Menschen zwischen Kernscheid und Trier-West haben ganz unterschiedliche Meinungen, warum sie ihre Stimmen bei der Oberbürgermeister-Wahl abgegeben haben - oder nicht. Der TV ist am Tag der Stichwahl in beide Stadtteile gereist und hat Stimmungen eingefangen.

Fast eine halbe Stunde lang herrscht gähnende Leere in der Kurfürst-Balduin-Schule in Trier-West. Auf einem Tisch sind die Urnen aufgebaut, in die Menschen ihre Stimme für Hiltrud Zock oder für Wolfram Leibe einwerfen sollen. Das Problem: Es ist kaum jemand zu erspähen, der über den Schulhof stiefelt, durch die Tür mit dem von Kindern gebastelten "Willkommen"-Plakat tritt und sein Kreuzchen macht. Wer Oberbürgermeister wird, scheint Nebensache zu sein.

Guido Zimmer, Wahlleiter, tigert beinahe peinlich berührt hin und her. "Die Wahlbeteiligung war hier schon immer niedrig", sagt er leise. Woran das liegt? Er wischt sich die blonden Haare aus dem Gesicht und überlegt. "Das Desinteresse in der Gesellschaft wird größer, aber das gilt nicht nur für die Politik. Vereine, Gewerkschaften, Parteien: Alle klagen doch über weniger Mitglieder."
Die Suche nach Erklärungen



Johanna Schwab hört aufmerksam zu. Die Wahlhelferin hat Zeit, weil kein Mensch in die Schule kommt. Das Mathebuch der 20-Jährigen liegt auf dem Tisch, der Taschenrechner daneben. Sie erledigt ihre Hausaufgaben. "Vektorenrechnung", sagt sie. Schnell zählt sie auch zusammen, wie viele Leute um 15.02 Uhr schon wählen waren in ihrem Bezirk. "Zehn Prozent". waren es. Aus dem Unterricht weiß sie, dass von ihren Mitschülern kaum jemand über den Oberbürgermeister abstimmt. "Wer wählen geht, wird schon fast ausgelacht." Doch Schwab gibt ihr Kreuzchen ab. "Ansonsten ändere ich doch nix an der Situation", meint sie - und spricht damit Arnela Memic aus der Seele.
Sie ist die erste Wählerin, die nach langen Minuten des Wartens in den Raum tritt. "Ich bin mit meinen Eltern wegen des Kriegs aus Bosnien geflohen, als ich klein war.

Vor zwei Jahren wurde ich deutsche Staatsbürgerin. Wählen zu gehen war immer mein größter Wunsch." Erklärungsansätze, warum in Trier-West beim ersten Wahlgang nur 18,3 Prozent der Berechtigten abstimmten, fehlen Memic. Sie fehlen auch Wahlleiter Guido Zimmer. "Fragen Sie doch mal die Menschen im Stadtteil. Die Hartz-IV-Empfänger, denen es nun wirklich nicht gut geht", rät er. "Die werden ihre Meinung schon sagen."

Gesagt, getan. Doch über das Nichtwählen zu sprechen, fällt vielen Menschen offenbar schwerer, als wählen zu gehen. Zwei Männer flüchten schnell wortlos mit ihren Mountainbikes. "Ich sage gar nichts", poltert auch ein Mann, der vor einem Döner-Laden sitzt, ein Stubbi trinkt und Zigarette raucht. Seinen Namen verrät er nicht. Er verschränkt stur die Arme und lässt sich nach einigem Grummeln wenigstens entlocken, warum er der Wahl fernbleibt. Die Schuld gibt er den Kandidaten. "Die machen doch eh, was sie wollen. Und sie tauchen nur dann hier auf, wenn sie unsere Stimme brauchen. Ansonsten lassen sie sich nie blicken." Auch ein anderer Einwohner klagt über die Politiker. "Die lügen doch, was das Zeug hält", schimpft er. "Und irgendwie wirkt alles gesteuert. Kein Kandidat unterscheidet sich vom anderen." Allerdings weiß noch nicht mal jeder von der Wahl.

"Ich gehe wählen - am Montag", verspricht eine Frau, die ihren Kinderwagen vor sich herschiebt. Sebastian Beck schüttelt da nur den Kopf. Wobei der Politikstudent gesteht, auch nur "aus Tradition" zu wählen. "Die inhaltsleeren Plakate sprechen mich bestimmt nicht an."
Anders sieht die Welt in Kernscheid aus, wo es efeuberankte Häuser, Solarzellen auf Dächern und eine Kapelle mitten an der Straße zur Mehrzweckhalle gibt. 755 Wahlberechtigte gibt es dort. Fast die Hälfte von ihnen ist beim ersten Durchgang wählen gegangen. Die Wahlhelfer führen per Strichliste Buch. Obwohl auch hier ein großer Teil der Einwohner die Stichwahl meidet, herrscht Betrieb. Die Menschen kennen sich, grüßen sich. Eine Frau kommt mit ihrem Hund ins Wahlbüro. "Wir leben in einem kleinen Ort und haben ein Gemeinschaftsgefüge, in der einer den anderen wahrnimmt", findet der 71-jährige Alois Heinz.

Seine Ehefrau Edith, früher wie ihr Mann in der Berufsschule tätig, stimmt zu. "Wenn ein Oberbürgermeister ein Versprechen bricht, kann ihn jeder persönlich zur Rede stellen. Wir können also was bewegen." Dann geht das Ehepaar bei dem sonnigen Herbstwetter heim. Zufrieden, die Stimme abgegeben zu haben. Gespannt auf das Ergebnis. Wie in Kernscheid so viele Menschen - und wie Arnela Memic in Trier-West. Sie sagt: "Im Fernsehen sehe ich jeden Tag Menschen, die in anderen Ländern um das Wahlrecht kämpfen. Ich habe das Recht. Und ich gebe es nicht einfach auf."Interview mit Wahlgewinner Wolfram Leibe

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