Kurzgeschichte Pitter und der Sturm

Korlingen · Autor Bernhard Hoff­mann aus Korlingen (Landkreis Trier-Saarburg) erzählt eine neue Geschichte vom Pitter aus dem frühen 19. Jahr­­hundert. Diesmal geht es um Weihnachten.

 Ein anderes Weihnachtsfest in der Scheune.

Ein anderes Weihnachtsfest in der Scheune.

Foto: Christina Bublitz

Da ist in diesem Jahr 1806 alles anders: kein richtiger Winter, kein Schnee, zu warm, nicht genügend Regen. Die Brunnen sind fast leer, dafür Sonnenschein. Die Kinder warten auf den Schnee, um Schlitten zu fahren oder auf der Ruwer Eis zu laufen. Die Händler in der Stadt warten auf das Winterkleidungsgeschäft, die Bauern auf den Frost, der dem Ungeziefer an den Kragen geht. Und alle warten auf halbwegs weiße Weihnachten mit weißen Kappen auf den Bäumen, wie man es Jahr für Jahr gewöhnt ist. Bis auf das Wetter waren es normale Vorbereitungen auf das Weihnachtsfest mit Backen und Braten und Kochen, mit feurigen Wangen und frohen Herzen, mit Liebe, in Geschenke verpackt, rotglänzenden Äpfeln im Zuckerguss und goldenen Nüssen und dem grünen Baum, ohne den es kein richtiges Weihnachtsfest gibt.

Es ist eine selige Zeit, jeder ist freundlich, jeder lacht, jeder verzeiht, und all die Vorbereitungen verschlingen die drei, vier Tage davor in geschäftigem Treiben. Und dann kommt der Heilige Abend. „Endlich, endlich!“, rufen die Kinder, je jünger, umso lauter. „Puh! Endlich“, sagen die Frauen, die alles fertig haben. Und dann ist da dieses fahlgelbe Licht am dunklen Wolkenhimmel am frühen Nachmittag und es ist wieder viel zu warm, sodass die Ziegen und Gänse im Hof herum­spazieren und Gras suchen. „Es wird ja doch nichts werden, bei uns zieht der Regen meistens vorbei“, sagen die Alten.

Und tatsächlich: Kaum ist der Pitter im Haus, eine freudige Kinderschar um sich, den Martin und die Lena, den kleinen Jakob, den krabbelnden Johannes und das Neugeborene, die Katharina schon im schönsten rot-weißen Feiertagskleid, die ihm sogar vor aller Augen einen Kuss gibt. Alle lachen, der Ofen ist immer noch warm, alle warten, dass – da, ein Donner! Eieiei, und was für einer! Alle springen zum Fenster: „Da! Und da! Und da!“, rufen die Kinder und zählen Blitze, die aus dem Nichts gekommen sind. Aber Donner kommen nur wenige. Eine gespenstische Stille im Halbdunkel des Nachmittags, schwarze Wolken, die sich wie eine gekrümmte Hand über das Dorf beugen.

Pitter und Katharina saugen tief die Luft ein, die schwer und drückend auf allem lastet. Und als sie ins Haus zurück wollen, braust in einem einzigen Augenblick ein Windstoß heran, mit mächtiger Faust rüttelt er an den Bäumen. Die ahnungslosen Kinder kommen gerannt, der Jakob vorneweg, die Lena und der Martin hinterher. Und sie stemmen sich gegen den Wind, es ist ein Spaß, die Arme zu Flügeln zu machen und stärker zu sein als der Sturm. Aber der hält bloß den Atem kurz an. „Oh, schon aus?“ Und er stößt jetzt mit plötzlicher Wucht auf die Menschenkinder herunter. Die Kleinsten wirft er einfach um, da rennen sie schreiend ins Haus.

„Alle rein!“, schreit die Katharina. Und der Pitter zählt zwischen Blitz und Donner, schlägt die Fenster­läden zu. Blitz und Donner kommen jetzt zeitgleich, der Wind wirft seinen Holzschuppen um, Blitz und Donner im Sekundentakt. Und da, Herrgott! Da bricht der brennendste Blitz über der Linde sein Zickzack. Und da, keinen Augenblick später ein ungeheurer, betäubender Donnerschlag, der die Erde beben lässt. Der Blitz fährt senkrecht über die Krone in den Stamm; und zwei Meter über dem Boden zeigt sich ein Bersten und Brechen, es kracht. Und langsam erst … Himmel hilf! Da schreit der Pitter: „Alle raus! und rennt ins Haus, die Katharina rettet den Neugeborenen aus der Wiege, der Pitter greift den kleinen Johannes vom Boden der Küche.

Draußen sind sie, alle schreien und weichen zurück. Denn jetzt, mit all seiner zerstörerischen Macht hat sich der riesige Baum aufs Haus zu geneigt. Zwei mannsdicke Äste durchbohren den Schiefer des Daches wie Glas­scherben und stechen in Küche und Stube. Der mächtige Stamm zerschlägt die obersten Dachbalken, zersplitterndes Holz spritzt umher. Das Haus wehrt sich gegen den mächtigen Gegner – die starken Mauern halten stand. Da stehen sie, atemlos, das blanke Entsetzen im Gesicht. Mund und Augen offen, zitternd an allen Gliedern, der Pitter, die Katharina, der Knecht und die Magd, die Kinder an Rock und Hose von irgend­jemandem.

Und als sei noch nicht genug Schaden angerichtet und Elend und Not, bricht jetzt mit einem Mal ein Regen ein. Ach was, Regen: Es ist ein Wolkenbruch über den verstörten Menschen, über dem zerstörten Haus. Die Schleusen des Himmels öffnen sich unbarmherzig über Gerechte und Ungerechte. Und durch die gewaltigen Löcher im Dach rauscht der Regen, der wie ein Sturzbach herunterkommt, ins Haus.

Ein Sturm bricht an Heiligabend los, ein Blitz schlägt in die Linde neben dem Haus ein.

Ein Sturm bricht an Heiligabend los, ein Blitz schlägt in die Linde neben dem Haus ein.

Foto: Christina Bublitz

Jetzt gilt es kühlen Kopf zu bewahren. Da gilt es zu retten, was möglich ist, vor den Wassermassen, die ins Haus strömen. Die Küche schwimmt, in der Stube steht das Wasser fußhoch, die Decken tropften, Wasser überall. „Alles in die Scheune!“, schreit der Pitter, und alle tun, was sie können, der Knecht hebt mit dem Pitter die Möbel, die Magd mit den großen Mädchen alles Geschirr. Und, Herr Jesus, beim Weg zur Scheune blitzt es immer noch und donnert laut. Jedes Mal gibt es einen Schlag ins Herz, und der Jakob kommt mit seinem Schaukelpferd ins Wanken, das er retten will. Die Stofftiere der Lena sind patschnass, und der Valentin rettet seine Bücher, mein Gott, als ob das so wichtig wäre … Hinein, nur hinein in die große Scheune, die unbehelligt von Sturm und Wasser da steht.

Und dann, später, als Donner und Blitze weitergezogen sind und anderer Menschen Hab und Gut vernichten, holt der Pitter den Weihnachtsbaum aus dem zerstörten Haus und stellt ihn in die Mitte der Scheune. Es ist arg dunkel, aber mit vier Kerzen kommt ein warmer Lichtschein über die ganze Hausgemeinschaft. Und das Tosen des gewaltigen Sturmes und Brausen des furchtbaren Regens auf dem Holzdach machen keine Angst mehr.

„Frohe Weihnachten!“, kann er jetzt nicht sagen, und das „Gesegnete Weihnachten!“ kommt ihm auch nicht über die Lippen. Aber er greift nach rechts und links nach den Händen, und alle, im Halbkreis, um den Pfeiler, in der Ecke, reichen sich die Hände. Nur der Johannes krabbelt im Stroh, auf das man ihn gelegt hat und beißt in die Halme. Und das Neugeborene liegt dicht an die Katharina geschmiegt und schläft. „Wir leben“, sagt er. „Gott sei Dank!“ sagt die Katharina. „Amen!“, sagt der Valentin. Und alle nicken und atmen einmal auf und drücken sich an den Händen.

Und die drei Kühe schauen den Pitter mit großen Augen schweigend an, und Hug, das Pferd, stampft einmal kräftig auf, die Ziegen nicken mit schiefen Köpfen. Und die fünf Schweine, diese empfindsamen Wesen, legen sich auf die Seite und schlafen ein.

Vom Autor sind 24 der Erzählungen mit 50 farbigen Illustrationen von Christina Bublitz als Buch erschienen: „Der Pitter. Korlinger Geschichten I“, 140 Seiten, 18,90 Euro.
Bezug per E-Mail an hoffmann1530@aol.com oder im Buchhandel, ISBN: 9783755778547

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